26.06.06 Kindesmisshandlung
BPtK-Position zur Prävention von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung
(BPtK/RN) Kindesmisshandlung und Kindesvernachlässigung sind nicht zuletzt wegen einiger besonders schweren Fälle wieder ins Zentrum der Öffentlichkeit gerückt. Die Zahl gemeldeter Fälle von Kindesmisshandlung ist in seit 1996 bundesweit um rund 50% auf etwa 3.000 jährlich gestiegen, die Dunkelziffer ist hoch. Nach Schätzungen der UNICEF leben in Deutschland derzeit etwa 200.000 Kinder in verwahrlostem Zustand. Gefährdete Familien brauchen möglichst früh multiprofessionelle Netzwerke, die psychosoziale Notlagen früh erkennen und Kindesmisshandlung und -vernachlässigung verhindern.

"Eltern zur Früherkennung zu verpflichten, ist eine Idee, die praktisch mehr schadet als nutzt", erklärte Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) anlässlich einer Bundesratsinitiative zu einem "verbindlichen Einladungswesen" für die U1- bis U9-Untersuchungen (BR-Drs. 56/06). Ein solches Kontrollsystem sei fehleranfällig; so könnten z.B. Eltern, die ihre Kinder verwahrlosen lassen oder misshandeln, die Untersuchungstermine so legen, dass ihre Kinder ausreichend symptomfrei beim Kinderarzt erscheinen.

"Was wir brauchen sind bessere Instrumente in der Früherkennung und vor allen Dingen mehr als Früherkennung", stellte BPtK-Präsident Richter fest. "Eltern brauchen früh Hilfen, die eine Eskalation von kritischen familiären Situationen auffangen." Grundidee ist eine stärkere Vernetzung der verschiedenen Beteiligten (Gynäkologen, Geburtskliniken, Hebammen, ÖGD, Jugendhilfe, Kinderärzte sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten) und eine höhere Verbindlichkeit beim Austausch von Informationen. Die BPtK und die Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg unterstützt alle Initiativen, die solche Frühwarnsysteme aufbauen, ausdrücklich.

Ein Frühwarnsystem allein reicht allerdings nicht aus. Wenn Kindesmisshandlung, -vernachlässigung oder -verwahrlosung erfasst werden, müssen auch kurzfristig Hilfsangebote, z. B. bei der kommunalen Erziehungsberatung, verfügbar sein. Gerade in der Familienberatung haben aber die Bundesländer in den vergangenen Jahren massive Einsparungen vorgenommen und die finanziellen Ressourcen von Erziehungs- und Familienberatungsstellen erheblich gekürzt. Dabei nehmen Familien diese Beratungsstellen in den vergangenen Jahren immer häufiger in Anspruch. Eine Reform innerhalb der gesetzlichen Krankenkassen allein reicht deshalb nicht aus. "Länder und Kommunen sollten ihren Verpflichtungen im Öffentlichen Gesundheitsdienst und insbesondere in der Jugendhilfe nachkommen und sich wieder stärker engagieren", forderte der BPtK-Präsident.

Umgekehrt sollten in der gesetzlichen Krankenversicherung die erforderlichen Behandlungen sichergestellt sein. Dazu ist der dramatischen Unterversorgung von Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken. Jedes zwanzigste Kind in Deutschland braucht eine psychotherapeutische Behandlung. Ein dünnes Netz niedergelassener Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten führt jedoch in ganz Deutschland und insbesondere in ländlichen Gebieten und in Ostdeutschland zu langen Wartelisten und langen Anfahrtswegen. "Gerade in der Entwicklung von Kindern sind Wartezeiten von mehreren Monaten inakzeptabel, da sonst aus Entwicklungsrisiken Risikoentwicklungen werden", begründete Richter. Die Forderungen der Bundespsychotherapeutenkammer im Einzelnen:

• Integration von Merkmalen der psychosozialen und kognitiven Entwicklung in die U1- bis U9-Früherkennung,
• Einsatz von psychosozialen Screening-Instrumenten zur Erfassung von entsprechenden Störungen,
• zusätzliche Früherkennungsuntersuchungen im öffentlichen Gesundheitsdienst, z.B. eine weitere zum Ende des dritten Lebensjahres (Beginn des Kindergartens zur frühzeitigen Erfassung von Defiziten in der kognitiven und Sprachentwicklung sowie Auffälligkeiten der sozial-emotionalen Entwicklung) sowie eine zwischen dem siebten und achten Lebensjahr (zur Erfassung von Krisen in den ersten Schuljahren).
• Nutzung differentialdiagnostischer Qualifikationen von Psychotherapeuten, insbesondere bei Risikokindern,
• Verbesserung der Information der Eltern zu Erhöhung der Teilnahmequoten an den Früherkennungsuntersuchungen. Den Familien sollte aufgezeigt werden, dass ihnen Beratung und Hilfen angeboten werden, wenn ihre Kinder gefährdet oder krank sind.

Die Landespsychotherapeutenkammer Baden-Württemberg schließt sich der Position der Bundespsychotherapeutenkammer uneingeschränkt an.



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