4.3.08 GEK-Report 2007 zur ambulanten Psychotherapie
— Massive Kritik
(rn) Ende November 2007 hatte die Gmünder Ersatzkasse (GEK) ihren jährlichen Bericht zur ambulant-ärztlichen Versorgung vorgestellt. Schwerpunkt des so genannten GEK-Reports war in diesem Jahr die psychotherapeutische Versorgung. In ihm wurden die Daten von etwa 1,5 Millionen Versicherten der GEK einer umfassenden Analyse unterzogen. Mit der Auswertung betraut wurde das Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung (ISEG) in Hannover, das von Professor Dr. Friedrich Wilhelm Schwartz, ehemals Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheitswesen, geleitet wird. Die Ergebnisse der Analyse sind in einem umfangreichen Bericht zusammengefasst, der hier heruntergeladen werden kann.

Unter der Überschrift "Bei Arztbesuchen ist Deutschland Weltmeister - Extremer Anstieg der ambulanten Psychotherapien - Zweifel an ihrer Wirksamkeit" hebt die GEK in ihrer Presserklärung hervor, dass im Zeitraum von 2000 bis 2006 die Zahl der mit ambulanter Psychotherapie behandelten Patienten um 61% gestiegen sei. Darüber hinaus zeigten die Daten, so die GEK, keine deutlich nachweisbaren positiven Wirkungen von Psychotherapie. Die GEK fordert mit Prof. Schwarz dringend vertiefende Untersuchungen zur Wirksamkeit von Kurz- und Langzeitpsychotherapie in der alltäglichen Versorgung.

Der Bericht untersucht im Schwerpunktbereich Psychotherapie vor allem die Inanspruchnahmedaten aller 20-69jährigen Versicherten hinsichtlich medizinischer Leistungen vor und nach erst- und einmaliger Genehmigung einer Psychotherapie. Hauptkriterium für die Abschätzung des Behandlungsergebnisses ist die Quantität der Arztkontakte im Verlauf von 14 Quartalen (5 vor und 9 nach Bewilligung). Annahme ist dabei, dass sich eine wirksame psychotherapeutische Behandlung im Gesundheitszustand der Patienten niederschlagen sollte und dies wiederum die Quantität der Arztkontakte verringern müsste.

Die Studie und v.a. die Interpretation der Ergebnisse hat weit reichende, teils heftige Reaktionen, u.a. der Psychotherapeutenverbände (z.B. bvvp, DPTV, vpp) und der BPtK hervorgerufen (siehe unten). Die Kritik bezieht sich dabei auf sehr unterschiedliche Punkte, von denen die wichtigsten kurz skizziert werden.

Kritikpunkt Bedarf/Versorgung: der berichtete Anstieg von 61% ist anders betrachtet marginal. Der Anteil der GEK-Versicherten stieg im berichteten Zeitraum von 0,55 auf 0,88%. Dies bedeutet, dass selbst bei konservativer Annahme von 7% Prävalenz nur knapp 1/10 der psychisch kranken Versicherten eine fachlich notwendige psychotherapeutische Behandlung erhält. Der Bericht selbst weist darauf hin, dass ca. 25% der GEK-Versicherten eine F-Diagnose (ICD-Kapitel "Psychische und Verhaltensstörungen") aufweist, d.h. der Versorgungsgrad liegt bei dieser Bezugsgröße deutlich unter 10%. Man könnte aus diesen Daten auch interpretieren, dass eine dramatische Mangel- bzw. Unterversorgung der Versicherten besteht.

Kritikpunkt Kurztherapien: der Bericht untersucht im Wesentlichen Kurztherapien mit einem Stundenumfang von 25 Stunden. Dies entspricht nicht der Versorgungssituation. Alle vorhandenen Studien bzw. Zahlen dazu (z.B. Löcherbach et al. 2000, Schulz et al, 2006, Zepf et al., 2001) gehen von einer mittleren Behandlungsdauer von mindestens ca. 50 bis 70 Stunden aus (bei entsprechend hoher Variabilität). 25-stündige Kurztherapien stellen eher die Ausnahme dar und es kann durchaus angenommen werden, dass in diesen Kurztherapien der Anteil unzureichend motivierter Patienten deutlich erhöht ist (weshalb die Therapeuten erst einmal nur einen Kurzantrag stellen). Aus dieser Perspektive kann eine Rückführung der Inanspruchnahme auf die Ausgangssituation durchaus als ein positives Therapieergebnis interpretiert werden. Davon unbenommen ist das darüber hinaus in den Stellungnahmen mehrfach geäußerte Argument, dass infrage zustellen sei, welche Effekte von solchen kurzen Therapien überhaupt erwartet werden können (zum Zusammenhang zwischen Behandlungsdauer und Outcome vgl. auch Steffanowski et al. 2007).

Kritikpunkt unzureichende Vergleichsgruppe: in der GEK-Studie werden zwar Patienten gleicher Störungsgruppe (depressive Patienten) mit und ohne PT-Genehmigung verglichen, nicht jedoch Patienten mit der gleichen krisenhaften Zuspitzung mit und ohne Psychotherapie. Dies ist mit den Routinedaten auch nicht möglich, es wird aber an keiner Stelle diskutiert, wie der weitere Verlauf ohne Intervention aussehen würde.

Kritikpunkt Berücksichtigung Ergebnisse der Psychotherapieforschung: eine kaum noch übersehbare Zahl von Therapiestudien weltweit belegt die Effektivität von Psychotherapie gegenüber nicht behandelten Patienten gleicher Störung. Obwohl bis heute nur wenig Daten zur realen Versorgungssituation vor allem bei ambulanten Psychotherapien existieren (von wenigen Studien, z.B. der Heidelberger Studie zur psychoanalytischen Langzeittherapie abgesehen) und diese als dringend im Sinn einer umfassenderen Versorgungsforschung auch von den meisten Kritikern der GEK-Studie als erforderlich angesehen werden, kann die Befundlage aus über 50 Jahren Psychotherapieforschung nicht einfach ignoriert werden (was der GEK-Bericht tut).

Kritikpunkt Stichprobe: der GEK-Bericht schließt mit den Ergebnissen einer relativ kleinen Versichertenstichprobe auf die bundesdeutsche Bevölkerung (die GEK versichert nur ca. 2% der Bevölkerung). Zwar basiert die Datenanalyse auf einer vergleichsweise großen Grundlage (ca. 1,5 Mio. Datensätze), es werden im Bericht allerdings keine Repräsentativitätsanalysen im Sinne von Vergleichen mit der Allgemeinbevölkerung vorgelegt.

Kritikpunkt Ergebniskriterium: die Studie verwendet im Wesentlichen ein einziges Ergebniskriterium, das der Anzahl der Arztkontakte. Andere Ergebniskriterien, weder weitere gesundheitsökonomische (z.B. AU-Zeiten) noch störungs- bzw. klinisch relevante werden nicht einbezogen, die Kriterienproblematik, die ja in der Psychotherapieforschung nicht gerade leicht lösbar ist, nicht einmal diskutiert.

Kritikpunkt Gesundheitsökonomie: ernst zu nehmende wissenschaftliche Analysen gesundheitsökonomischer Faktoren weisen (unter alleiniger Betrachtung der monetären Perspektive) auf ein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis von ca. 1:2 bis 1:4 hin (Zielke et al. 2004, Steffanowski et al. 2007), der "Return of Investment" (ROI) liegt zwischen 1,7 und 5,5 (Wittmann et al., 2002). Dies bedeutet einen erheblichen gesundheitsökonomischen Nutzen psychotherapeutischer Behandlungen. Ergebnisse dieser Art werden vom GEK-Bericht in keiner Weise zu Kenntnis genommen.

Kritikpunkt Opportunitätskosten bei Nicht- oder Falschbehandlung: Seit dem Forschungsgutachten zum Psychotherapeutengesetz (Meyer et al., 1981) ist bekannt, dass im Verlauf psychischer Erkrankungen somatische Fehlbehandlungen eine nicht unwesentliche Rolle spielen. Die mittlere Chronifizierungsdauer bis eine psychische Erkrankung erkannt und adäquat behandelt werden konnte betrug bereits seinerzeit ca. 5-7 Jahre. Einige sprachen auch von einer iatrogenen, also gesundheitssystembedingten Chronifizierung. Ergebnisse einer aktuellen Metaanalyse aus dem Bereich der Rehabilitation psychischer Erkrankungen (Steffanowski et al. 2007) zeigen, dass dies heute noch genauso ist wie vor über 25 Jahren. Wie im ersten Kritikpunkt hervorgehoben, erhält nur ein verschwindend geringer Teil der psychisch kranken GEK-Versicherten eine geeignete psychotherapeutische Behandlung. Europaweit muss mit ca. 300 Mrd. Euro gesellschaftliche Gesamtkosten für psychische Erkrankungen ausgegangen werden (Wittchen & Jacobi, 2006), was darauf hinweist, in welchen Dimensionen sich Opportunitätskosten bewegen können.

Ausdrücklich zu unterstützen ist die Auffassung der Autoren des GEK-Reports, dass eine fundierte und umfangreiche Versorgungsforschung auch im Bereich der Psychotherapie auf den Weg zu bringen ist. Die Diskussion um die GEK-Studie, vor allem im Hinblick darauf, welchen Sturm sie nun im Bereich der Psychotherapie ausgelöst hat, ist aus dieser Perspektive ausgesprochen begrüßenswert. Ein wenig erinnert sie an die provokanten Thesen von Hans Eysenck Anfang der 1950er Jahre, die dann Auslöser waren für über 50 Jahre umfangreicher Psychotherapieforschung. Bleibt zu hoffen, dass die GEK-Studie nun der Initiator oder besser Initialzündung für eine fundierte Versorgungsforschung im Bereich der Psychotherapie wird. So gesehen können alle Psychotherapeuten (später einmal) vielleicht froh sein um diese Studie, denn fundierte Versorgungsforschung wird die Psychotherapie stärken und nicht schwächen (weil die Psychotherapeuten gute Arbeit machen und sich dies in messbaren Ergebnissen niederschlagen wird). Aller Wahrscheinlichkeit nach wird auch die von vielen so heftig kritisierte TK-Studie zur Qualitätssicherung in der ambulanten Psychotherapie erste Gegenargumente einer breiten Versorgungsstudie zu den Behauptungen der GEK-Studie liefern können.

Literatur:
• Löcherbach, P et al. (2000). Indikatoren zur Ermittlung des ambulanten psychotherapeutischen Versorgungsbedarfs. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.
• Meyer, A.E. et al. (1991). Forschungsgutachten zu Fragen eines Psychotherapeutengesetzes. Hamburg, UKE.Schulz, H. et al. (2005). Versorgungsforschung in der psychosozialen Medizin. Bundesgesundheitsblatt, 49, 175-187.
• Steffanowski, A., et al. (2007). Metaanalyse der Effekte psychosomatischer Rehabilitation. Bern, Huber.Wittchen, H.-U. & Jacobi, F. (2006). Psychische Störungen in Deutschland und der EU - Größenordnung und Belastung. Verhaltensther & Psychosoz Prax, 38, 189-192.
• Wittmann, W. W. et al. (2002). Evaluationsforschung und Programmevaluation im Gesundheitswesen. Zts f Evaluation, 1, 39-60.
• Zielke, M., et al. (2004). Ergebnisqualität und Gesundheitsökonomie verhaltensmedizinischer Psychosomatik in der Klinik. Lengerich: Pabst Science Publishers.
• Zepf, S., et al. (2001). Zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgungslage in der Bundesrepublik Deutschland. Gießen Psychosozial

Kontakt:Dr. Rüdiger Nübling
Jägerstr. 40, 70174 Stuttgart
Tel. 0711/674470-40, Fax: 0711/674470-16

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