16.06.10 BPtK fordert bessere psychotherapeutische Versorgung von Migranten

Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) fordert eine bessere psychotherapeutische Versorgung von Migranten. Migranten erkranken um fast 60 Prozent häufiger an Depressionen im Vergleich zur einheimischen Bevölkerung. Körperliche Beschwerden, für die sich keine organischen Ursachen feststellen lassen (somatoforme Störungen), treten bei Migranten fast doppelt so oft auf.

Psychische Erkrankungen schränken Integrationsfähigkeit und -bereitschaft ein bzw. machen sie unmöglich. "Für Migranten fehlen passende psychotherapeutische Behandlungsangebote", stellt BPtK-Präsident Prof. Dr. Rainer Richter fest. "Wir fordern deshalb muttersprachliche Psychotherapeuten für Migranten, wenn dies nicht möglich ist, speziell ausgebildete Dolmetscher in der Psychotherapie." Besonders schlecht ist die Versorgung von Flüchtlingen, die den gleichen Anspruch auf Krankenbehandlung erhalten sollten wie Sozialhilfeempfänger.

Psychotherapie in der Muttersprache

"In einer Psychotherapie ist es für Patienten von zentraler Bedeutung, persönliche Empfindungen und Erfahrungen, scham- und angstbesetzte Erinnerungen, Gedanken und Wünsche ausdrücken zu können. Daher ist die Muttersprache eigentlich eine unverzichtbare Voraussetzung für die Durchführung einer Psychotherapie", erklärt BPtK-Präsident Richter. Die BPtK fordert deshalb, für die größten Migrantengruppen in der ambulanten Versorgung lokal die Zulassung muttersprachlicher Psychotherapeuten zu prüfen. Wird ein lokaler Sonderbedarf angenommen, wenn in einem Stadtbezirk z. B. mehr als zehn Prozent der Bevölkerung einer bestimmten Migrantengruppe angehören, ergäbe sich für Berlin ein Sonderbedarf von sieben Psychotherapeuten, die in türkischer Sprache behandeln. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) sollte deshalb in seiner Bedarfsplanungs-Richtlinie als Kriterium für einen lokalen Sonderbedarf muttersprachliche Psychotherapie berücksichtigen. Sind muttersprachliche Psychotherapeuten nicht verfügbar, sollte ein Anspruch auf einen Dolmetscher bestehen. "Qualifizierte Dolmetscher sind aufgrund ihrer Neutralität und Professionalität dafür geeignet", betont Richter, "keine Lösung sind Angehörige mit Deutschkenntnissen."

Kinder von Migranten

Kinder von Migranten leiden öfter an psychischen Problemen als deutsche Kinder. So treten beispielsweise Essstörungen um 50 Prozent häufiger auf. Wie bei einheimischen Kindern und Jugendlichen besteht ein Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit und sozialer Schichtzugehörigkeit, wobei Kinder mit Migrationshintergrund häufiger aus einfachen sozialen Schichten stammen. Gleichzeitig nehmen Migrantenkinder jedoch erheblich seltener an Früherkennungsuntersuchungen teil (56 Prozent im Vergleich zu 85 Prozent bei Kindern deutscher Eltern). Die BPtK fordert schon seit Langem, die Früherkennungsuntersuchungen für Kinder generell ab dem vierten Lebensjahr (U8) um Screenings für psychische Auffälligkeiten zu ergänzen. Außerdem sollte mindestens eine zusätzliche Früherkennungsuntersuchung zwischen dem siebten und neunten Lebensjahr in der Schule stattfinden. "Bisher besteht bei den Früherkennungsuntersuchungen eine Lücke zwischen dem sechsten und dem zwölften Lebensjahr", kritisiert der BPtK-Präsi¬dent. Mit einer Untersuchung im schulischen Setting könnten alle Kinder eines Jahrgangs erreicht werden. Von ihr profitieren insbesondere jene Kinder, die selten zu einem niedergelassenen Arzt gehen.

Traumatisierte Flüchtlinge

Ein besonderer Bedarf besteht bei der psychotherapeutischen Versorgung von Flüchtlingen. 2009 beantragten ca. 20.000 Menschen in Deutschland Asyl. Ein großer Teil dieser Menschen hatte traumatische Erlebnisse, insbesondere als Kriegsflüchtling und Folteropfer. Bei Posttraumatischen Belastungsstörungen oder anderen schweren psychischen Erkrankungen aufgrund von traumatischen Erlebnissen ist Psychotherapie die beste Behandlungsmethode. Stehen keine muttersprachlichen Psychotherapeuten zur Verfügung, sind speziell qualifizierte Dolmetscher erforderlich, die aufgrund der hohen Emotionalität der Behandlung oft gesonderte Supervision benötigen. Um eine angemessene Behandlung sicherzustellen, sollten Asylbewerber künftig denselben Anspruch auf Krankenbehandlung erhalten wie Sozialhilfeempfänger. Die bisherige Praxis einer sehr eingeschränkten Versorgung genügt nicht immer den europäischen medizinischen Mindeststandards, die in der Asylaufnahmerichtlinie (Richtlinie 2003/9/EG), der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG) und der Richtlinie für Opfer von Menschenhandel (Richtlinie 204/81/EG) festgelegt sind. "Die Einschränkungen im Asylbewerberleistungsgesetz sind angesichts der häufigen, schweren psychischen Erkrankungen bei Flüchtlingen nicht zu rechtfertigen", kritisiert der BPtK-Präsident.

Spezialisierung von Krankenhäusern

Auch in der stationären Versorgung fehlen spezifische Angebote für Migranten. Der Gemeinsame Bundesausschuss sollte Krankenhäuser künftig verpflichten, in ihren Qualitätsberichten darüber zu informieren, ob sie über interkulturell geschulte Mitarbeiter verfügen, Psychotherapeuten mit den notwendigen sprachlichen Kompetenzen beschäftigen und Dolmetscherdienste oder spezialisierte Behandlungsangebote anbieten, wie z. B. Gruppentherapien für lokal häufige Migrantengruppen. Diese Informationen sollten für Patienten zugänglich gemacht werden, z. B. in Internetportalen für die Krankenhaussuche. Schließlich müsste der Einsatz von Dolmetschern und spezifischen Behandlungsangeboten für Migranten auch im neuen Entgeltsystem für Psychiatrie und Psychosomatik berücksichtigt werden.

Hintergrund: Psychische Erkrankungen bei Migranten

In Deutschland leben knapp sieben Millionen Menschen mit einem ausländischen Pass. Über 15 Millionen Menschen haben mindestens ein Elternteil, das nach Deutschland immigriert ist. Migration ist für viele Menschen mit kritischen Lebensereignissen und Belastungen verbunden, die das Risiko für eine psychische Erkrankung erhöhen. Dazu gehören insbesondere Identitätskrisen, verstärkte Familien- bzw. Generationenkonflikte, längere Trennungen von den Eltern, traumatische Erlebnisse auf der Flucht, prekäre Arbeits- und Wohnsituationen, wenige Sozialkontakte, unsicherer Aufenthaltsstatus und Diskriminierung durch die einheimische Bevölkerung. Nach einer Auswertung des Bundesgesundheitssurveys erkrankten Migranten um 20 Prozent häufiger als Einheimische während ihres Lebens an einer psychischen Störung, insbesondere an Depressionen und somatoformen Störungen. Migranten mit psychischen Erkrankungen nehmen bisher allerdings kaum ambulante Psychotherapie in Anspruch. Ein Grund dafür ist, dass kaum muttersprachliche Psychotherapeuten vorhanden sind. Psychotherapie ist im Vergleich zur körperlichen Medizin in besonderer Weise auf die gelungene sprachliche Verständigung zwischen Patient und Psychotherapeut angewiesen.

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