Der diesjährige mit ca. 120 Teilnehmern gut besuchte „kleine“ Landespsychotherapeutentag der LPK Baden-Württemberg beschäftigte sich als Fachtagung mit dem Problem der Abstinenzverletzungen in der Psychotherapie. Kammerpräsident Dr. Dietrich Munz begrüßte u.a. den Präsident der LPK Hessen, Jürgen Hardt, den Vizepräsident der LPK Bayern, Dr. Bruno Waldvogel, Vorstandmitglied der LPK Niedersachsen, Jörg Hermann sowie die Kammeranwälte Manfred Seeburger sowie Michael Mächtel.
Dr. Munz betonte in seiner Eröffnungsrede, wie wichtig es sei, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen. Nicht Tabusierung von Abstinenzverletzungen sei die Lösung, sondern nur der offene Diskurs über sie und ihre Folgen. Auch müsse eine Aufklärung über die berufs- und strafrechtlichen Folgen stattfinden. Hierzu wollte die Tagung einen ersten Beitrag leisten und damit die fachliche Diskussion und Auseinandersetzung mit dem Thema weiter fördern. Die Tagungsbeiträge und Fallbeispiele können am Ende dieser Seite heruntergeladen werden.
Im ersten Vortrag stellte Dr. Monika Becker-Fischer (Deutsches Institut für Psychotraumatologie DIPT Köln), gemeinsam mit ihrem Mann Prof. Gottfried Fischer Autorin des Buches "Sexuelle Übergriffe in Psychotherapie und Psychiatrie – Orientierungshilfen für Therapeut und Klientin" (Verlag Asanger, Heidelberg, 2008), die wichtigsten Forschungsergebnisse zum Thema Abstinenzverletzungen vor. Ein bedeutsamer Befund liegt in der Rate betroffener Patienten, die Becker–Fischer zwischen 10 und 20% angegeben hat, nicht eingerechnet eine mehr oder weniger hohen Dunkelziffer. Private, v.a. sexuelle Beziehungen zwischen Therapeut und Patient hätten dabei eine besonders negative Wirkung auf den Patienten. So habe sich laut einer Studie der Gesamtzustand nach einer sexuellen Abstinenzverletzung im Vergleich zu Therapiebeginn nur bei ca. 7% der Patienten verbessert, bei ca. 70% hingegen verschlechtert. Besonders aufsehenerregend war das Ergebnis einer Studie, wonach bei betroffenen Patienten ein ähnlich hoher psychotraumatischer Belastungsgrad wie bei Folteropfern gemessen wurde (Vergleich der Selbsteinschätzung der Patienten mit dem von Folteropfern).
Im Anschluss an den Vortrag von Frau Becker-Fischer gab es Vielzahl von Wortmeldungen und Fragen aus dem Publikum, so zum Beispiel ob es sich bei einer Abstinenzverletzung erst um ein Delikt handelt, wenn sie zur Anzeige gebracht wird. Hier wurde klargestellt, dass es sich nach der Berufsordnung (BO) der Kammer(n) immer um einen Verstoß handelt, egal, ob die Abstinenzverletzung angezeigt wird oder nicht. Die BO der LPK Baden-Württemberg erlaubt unter dem Vorbehalt, dass keine Behandlungsbedürftigkeit oder Abhängigkeit beim Patienten mehr besteht einen intimeren Kontakt zwischen Therapeut und Patient, wenn das Therapieende mehr als ein Jahr zurückliegt. Kritisch angemerkt hierzu wurde aus dem Publikum, dass diese Zeitspanne zu eng gesetzt sei und z.B. mindestens auf 3 Jahre ausgedehnt werden sollte. Es kam auch die Frage nach der Definition des Begriffes Abstinenzverletzung auf, z.B. ob schon ein gemeinsames Abendessen mit dem Patienten dazu zähle. Seitens der LPK wurde hierbei betont, dass man sich bisher zu sehr am juristischen Begriff der sexuellen Handlung orientiere.
Dietrich Munz ging im zweiten Vortrag auf die Abstinenz als ethische Grundhaltung in der Psychotherapie ein. So bedürfe die psychotherapeutische Behandlung eines Kodex, der Glaubwürdigkeit, Schutz und Verlässlichkeit für den Rahmen der Behandlung bietet. Die Auseinandersetzung mit der Ethik sollte jedoch nicht zu schnell durch eine Moral mit Verboten und Geboten ersetzt werden, sondern es müsse ein Diskurs über die Ethik aufgegriffen werden, um hieraus gegebenenfalls spezifische, für die psychotherapeutische Situation erforderliche Handlungskodizes zu entwickeln und eine vertiefte Auseinandersetzung mit den in Psychotherapien entstehenden ethischen und moralischen Konflikten zu ermöglichen.
Sexuelle Grenzüberschreitungen von Psychotherapeuten können, wie Munz ausführte, verheerende Folgen für die Beziehungs- und Vertrauensfähigkeit haben. Folgen könnten darüber hinaus auch in einer jahrelangen Arbeitsunfähigkeit, in einer Hörigkeit bis hin zu psychotischer Dekompensation und Suizid liegen – selbst wenn es nur zu kurzzeitigen sexuellen Beziehungen von wenigen Tagen komme. Dabei könnten sich die Täter solcher Verletzungen nicht auf Fälle ohne Konsequenzen berufen. Nicht nur die tatsächlich eintretenden, sondern das bewusste in Kauf nehmen solcher bekannter Folgen zu Gunsten persönlicher Bedürfnisbefriedigung bestimmten solches Handeln als zutiefst unethisch.
Arten von Grenzverletzungen können auch z.B. therapeutischer Voyeurismus, Komplizenschaft, ein narzisstischer Übergriff, in dem der Therapeut versucht, eigene Bedürfnisse nach Anerkennung, Beachtung und Bewunderung zu erhalten oder die Ausnutzung der Schuldgefühle von Patienten sein. Abstinenz sei einerseits eine moralische Forderung an den Psychotherapeuten, andererseits führten jedoch die offene Auseinandersetzung mit den Grenzen der Psychotherapie und den eigenen Behandlungen zu einer Verinnerlichung und somit zu ethischer Verantwortung. Dies gelte vor allem auch für die psychotherapeutische Ausbildung, in der die Auseinandersetzung mit der ethischen Verantwortung des Psychotherapeuten sowohl unter philosophischen als auch unter handlungspraktischen Gesichtspunkten ausreichend Zeit haben sollte.
Anschließend stellte Kristiane Göpel, Mitglied im Vorstand der LPK-BW, eine Reihe von Beschwerdefällen vor, welche die häufigsten Arten von Grenzverletzungen abdeckten.
Als letzter Programmpunkt der Tagung fand eine Podiumsdiskussion unter Moderation von Bruno Waldvogel, den Kammeranwälten Manfred Seeburger und Michael Mächtel, der Justiziarin der LPK, Rechtanwältin Dagmar Löffler und Kristiane Göpel statt, in der vor allem das Publikum die Möglichkeit hatte, seine Fragen an das Podium zu richten.
Ein thematischer Schwerpunkt lag dabei bzgl. Strafen für Abstinenzverletzungen oftmals großen Diskrepanz zwischen einem harten Strafrecht und einem von vielen als zu milde eingeschätzten Berufsrecht. Diskutiert wurde dabei u.a. die Forderung, zusätzlich zur Strafe im Strafverfahren im Rahmen des Berufsrechts weitere Maßnahmen zur Wahrung des Ansehens des Berufsstandes und zur Vermeidung von Wiederholungstaten zu ergreifen, wie z.B. hohe Geldstrafen, die Aberkennung von Berufs- und Wahlrechten, die Aussetzung oder Beendigung der Kammermitgliedschaft oder auch der Entzug der Approbation sowie der KV-Zulassung. Außerdem, so wurde kritisch angemerkt, sei die Verjährungsfrist der Tat oft nicht ausreichend, da ihre Folgen oft erst später zum Tragen kämen und Patienten oft lange zögern, bis sie die Übergriffe zur Anzeige bringen. Es wurde von den Teilnehmern gefordert, schon in der Ausbildung verstärkt zu prüfen, ob der jeweilige Ausbildungskandidat für den Beruf des Psychotherapeuten geeignet sei. Einhellig war die Meinung, dass durch das Fehlverhalten das Vertrauen in einen ganzen Berufsstand aufs Spiel gesetzt werde und die berufsständische Vertretung entsprechend hart auf Vergehen reagieren müsste. Des weiteren wurde diskutiert, ob nicht eine verpflichtende Teilnahme an einer Supervisionsgruppe berufsrechtlich geregelt werden könnte.
Als Problem wurde auch gesehen, dass die Berufsordnung der LPK BW hinter der Musterberufsordnung BPtK zurückbleibe. So seien sexuelle Abstinenzverstöße gut abgedeckt, während solche aus wirtschaftlichen Interessen nicht geregelt seien und somit nicht gut geahndet werden könnten. Es wurde deswegen auch von den Teilnehmern gefordert, dass die Kammer in der Berufsordnung regeln solle, was alles genau unter Abstinenzverletzungen falle.
Von juristischer Seite wurde bemängelt, dass den Anwälten insbesondere bei kleineren Verstößen die Einschätzung von Fachkollegen fehle, wie die Schwere der Tat zu beurteilen sei oder wie kleinere und mittlere Verstöße klar voneinander getrennt werden könnten. Weiterhin wurde von Anwaltsseite angeregt, dass alle Verstöße, egal welchen Ausmaßes, vor das Berufsgericht kommen sollten. Bemängelt wurde zudem, dass das Heilberufekammergesetz, keine Schlichtungsstelle am Berufsgericht zulasse.
Dr. Munz schloss die Tagung mit einem Aufruf bzw. einer Einladung an die Teilnehmer, sich an einer neu zu gründenden Arbeitsgruppe zur vertiefenderen Diskussion des Themas und v.a. zur Erarbeitung von Lösungsmöglichkeiten zu beteiligen. Spontan meldete sich eine größere Anzahl der Teilnehmer, was die Bedeutung des Themas und den Wunsch zur intensiveren Diskussion aufzeigt. Insgesamt war die Veranstaltung von einem sehr lebhaften Austausch geprägt und bestärkte den Kammervorstand in der Auffassung, das Thema weiterhin zu priorisieren. In diesem Zusammenhang wurde auch auf die Kooperation der LPK BW – gemeinsam mit den LPKen Bayern und Berlin – mit der Unabhängigen Patientenberatung Deutschlands (UPD; www.unabhaengige-patientenberatung.de) über eine Anlaufstelle für Beschwerden über Psychotherapie, die in der zweiten Julihälfte an den Start geht hingewiesen (weitere Infos zu Kooperation mit der UPD finden Sie unter hier).
Materialien der Fachtagung zum Download: