(RN) Mit einer Fülle von Halbwahrheiten und Unterstellungen hat die Welt am Sonntag in ihrer Ausgabe vom 6.11. unter dem Titel „Das Geschäft mit der kranken Seele“ Menschen mit psychischen Erkrankungen sowie die inzwischen nicht nur für die Patienten sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes erfolgreichen Behandlungen diskriminiert.
Die Welt bzw. die Autoren Anette Dowideit und Marc Neller kritisieren dass „über Jahrzehnte“ eine „gigantische Seelenindustrie“ entstanden sei, „viel zu oft“ so organisiert, dass „Gesunde für viel Geld teuer therapiert“ würden. Die entscheidende Frage sei deshalb: „sind die vielen Milliarden wirklich sinnvoll angelegt?“.
Leider verkennen die Autoren völlig die aktuelle Situation und auch Forschungslage. Und fallen zurück in einen Tonfall, der in den 50er sehr verbreitet war: psychisch kranke Menschen sind nicht wirklich krank, sie haben Wellnes- oder Weltschmerzprobleme, sie müssen sich nur etwas stärker ihren Willen bemühen oder sich besser kontrollieren. Und das Geld, das die GKV für Psychotherapie ausgibt, verschwindet in einem riesigen Moloch, dessen Sinn mehr als fraglich erscheint. Das ist ein Schlag ins Gesicht aller Menschen, die tagtäglich unter ihren psychischen Beeinträchtigungen leiden müssen.
Epidemiologischen Studien zufolge liegt deutschlandweit der Anteil von Menschen mit irgendeiner psychischen Störung bei ca. 30% (12-Monats-Prävalenz), das betrifft etwa 15 Millionen Menschen. Europaweit sind die Zahlen vergleichbar, wie die eben erschiene Studie von Wittchen et al. (2011) zeigt, weisen ca. 140 Millionen Europäer innerhalb eines Jahres eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung oder Störung auf.
Darüber hinaus verschweigt der Beitrag in der WaS, dass Psychotherapie hoch wirksam ist und einen hohen gesamtgesellschaftlichen Nutzen hat. Die Behandlungseffekte sind z.B. deutlich höher als in vielen anderen Bereichen der Gesundheitsversorgung, z.B. für Bypass-Operationen bei Angina Pectoris, für medikamentöse Therapie der Arthritis, für Medikament zur Blutverdünnung oder für die Einnahme von Aspirin zur Herzinfarktprävention (Margraf, 2009) Und die Kosten-Nutzen-Relation ist beträchtlich: Studien zeigen, dass die Gesellschaft für einen in die Psychotherapie investierten Euro drei bis vier zurückerhält (z.B. Wittmann et al., 2011, Wittmann & Steffanowski, 2011). Der jährliche Gesamtnutzen allein für die durch die gesetzliche Krankenversicherung finanzierte ambulante Psychotherapie liegt bei ca. 3 Mrd. €, bei sehr konservativer Schätzung (s. Paper von Nübling, 2011, Download unten).
Unter anderen Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer als auch Dr. Norbert Metke, Vorsitzender der Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg, haben sich öffentlich, differenziert und kritisch zum WaS-Artikel geäußert (siehe den Leserbrief von Prof. Richter sowie die Pressemitteilung der KVBW unten).
Meldungen dieser Art verunsichern Patienten, die sich aktuell in Psychotherapie befinden, in völlig unnötiger und auch verantwortungsloser Weise und vor allem auch jene, die unter Deprssionen,Ängsten, Folgen traumatischer Erlebnisse u.v.a.m. leiden und sich nicht getrauen, psychotherapetische Hilfe in Anspruch zu nehmen oder kurz davor sind, dies zu tun. Und sie leistenn einen nicht unbedeutenden Beitrag zur - weiteren - Stigmatisierung psychisch kranker oder beeinträchtigter Menschen!
Dokumente zum Download:
Literatur:
Margraf, J. (2009). Kosten und Nutzen der Psychotherapie. Heidelberg, Springer. Wittchen, H.-U. et al. Eur. Neuropsychopharmacol. 21, 655-679 (2011).
Wittmann, W.W., Lutz, W., Steffanowski, A., Kriz, D., Glahn, E.M., Völkle, M.C., Böhnke, J.R., Köck, K., Bittermann, A. & Ruprecht, T. (2011). Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie: Modellprojekt der Techniker Krankenkasse - Abschlussbericht. Hamburg: Techniker Krankenkasse. „Download von der TK-Seite“
Wittmann, W.W. & Steffanowski, A. (2011, in Druck). Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie: Ergebnisse des TK-Modellprojekts. Psychotherapie Aktuell, Heft 3/2011.