13.07.2012Landespsychotherapeutentag 2012
Bericht und Präsentationen

Am Samstag den 23. Juni fand in der Stuttgarter Liederhalle der diesjährige Landespsychotherapeutentag zum Thema „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder in besonderen Belastungssituationen – Rolle der Psychotherapie“ statt. Damit wurde ein Thema aufgegriffen, das im Rahmen der psychosozialen Versorgung in Deutschland in den vergangenen Jahren eine hohe Bedeutung erfahren hat: Frühe Hilfen für besonders belastete Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern bis zu drei Jahren.
Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sind bisher noch wenig in die vielerorts neu entstandenen Netzwerke zwischen Jugendhilfe und Gesundheitswesen eingebunden. Bei der Tagung sollten insbesondere die (mögliche) Rolle und die konkreten Möglichkeiten der von Psychotherapeuten im Rahmen der frühen Hilfen diskutiert werden. Hierzu war es der Kammer gelungen, renommierte Referenten einzuladen.

Blick ins Plenum
Blick ins Plenum

Nach einer Einführung in das Thema durch Kammerpräsident Dr. Dietrich Munz referierte Mechthild Paul vom Nationalen Zentrum für Frühe Hilfen Köln zum Stand der Entwicklung Früher Hilfen in Deutschland. Gravierende Fälle von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung, so Frau Paul, seien der Anlass zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte gewesen, ob die bestehenden Ressourcen, Konzepte und Verfahren im Kinderschutz dazu beitragen, Kinder ausreichend vor Gefährdungen zu schützen. Im Zuge dieser Debatte, die Mängel im Schutz der Kinder aufzeigte, wurden dann Initiativen wie die der Frühen Hilfen initiiert, die dann im neuen Bundeskinderschutzgesetz verankert wurde.

Mechthild Paul
Mechthild Paul
Ziele der Frühen Hilfen seien, wie Frau Paul ausführte, vor allem in der Verbesserung von Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Eltern, der Förderung der Beziehungs- und Erziehungskompetenz von Eltern, im Beitrag zum gesunden Aufwachsen von Kindern, der Sicherung der Rechte von Kindern auf Schutz, Förderung und Teilhabe, dem Aufbau bzw. der Unterhaltung lokaler und regionaler Unterstützungssysteme mit koordinierten Hilfeangeboten sowie im frühzeitigen Schutz von Kindern vor Vernachlässigung und Misshandlung. Die Investition in die Frühen Hilfen sind erheblich geringer als die Folgekosten, wenn keine präventiven Hilfen angeboten wurden, die Schätzungen lägen zwischen 1:13 und 1:34 (!). Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen und -therapeuten könnten zum Netzwerk Frühe Hilfen vor allem ihr Wissen bzgl. entwicklungspsychologischer und -pathologischer Prozesse und Phasen, bzgl. kindlicher Reaktions- und Verarbeitungsweisen und der Wechselwirkungen zwischen Bezugspersonen und Kind, bzgl. Möglichkeiten zur Diagnostik und Behandlung von Störungen und Bereithaltung von Behandlungskonzepten beitragen. Erwachsenenpsychotherapeuten könnten darüber hinaus Fachkräfte Früher Hilfen in der Einschätzung der Schwere der Beeinträchtigungen und der Behandlungsnotwendigkeit unterstützen ebenso wie hinsichtlich des Zugangs zu belasteten Familien mit Kindern und Hilfe geben bei der Vermeidung einer Unter- oder Überwertung der Erkrankung der Eltern.

Prof. Dr. Manfred Cierpka, Institut für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie des Uniklinikums Heidelberg, sprach anschließend zum Thema „Besser vorsorgen als nachsorgen - Was können Erwachsenenpsychotherapeuten und Kinder– und Jugendlichenpsychotherapeuten beitragen?“ Er zeigte den Zusammenhang zwischen einem Aufwachsen in ungünstigen familiären Beziehungen und schwierigen Persönlichkeitsentwicklungen auf und stellte Überlegungen zur besseren Prävention vor.

Referent Prof. Dr. Manfred Cierpka
Prof. Manfred Cierpka
Aus Familien, in denen auch gewalttätige Übergriffe der Eltern vorkommen, entwickeln Kinder häufig aggressives und gewaltbereites Verhalten. Wie Prof. Cierpka ausführte, zeichnen sich sehr belastete Familien oft aus durch unbefriedigende und konflikthafte Partnerschaftsbeziehungen, innerfamiliäre Konfliktlösemuster, in denen die Gewalt als Wahl der Problemlösung eine Rolle spielt, und Schwierigkeiten im Umgang mit Grenzsetzungen. Er berichtete vom Projekt „Keiner fällt durchs Netz“, bei dem den belasteten Familien beim Übergang von der Partnerschaft zur Elternschaft eine individuell passende Hilfe und Unterstützung vermittelt werden sowie die Familien durch die sensible Phase der Frühen Kindheit zu begleitet werden sollen. Eine zentrale Frage dabei ist, wie es gelingen kann, dass in Familien die eigenen, früheren Gewalterfahrungen nicht wiederholt werden. Hochbelasteten Familien verfügen häufig nicht über die Ressourcen, um dem Kind eine angemessene Bindung und Beziehung anbieten zu können. Im Projekt „Keiner fällt durchs Netz“ wird auf der Grundlage der frühen Betreuung durch Hebammen und einem Elternseminar ein Screening zum Hilfebedarf durchgeführt und ggf. dann Interventionen bzw. therapeutische Hilfen angeboten. Im Netz sind neben den Hebammen und Frauen-/Kinderärzten vor allem auch psychologische Beratungsstellen und Gesundheits-, Sozial- und Jugendamt. Prof. Cierpka forderte dazu auf, dass mehr niedergelassene Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten am Netz teilnehmen.

Gila Schindler, Rechtanwältin in Heidelberg, referierte zum Bundeskinderschutzgesetz, speziell zum Thema Frühe Hilfen und Datenschutz sowie rechtliche Grundlagen interdisziplinärer Zusammenarbeit in Netzwerken. Das Thema Datenschutz sei ein besonderes Problem in der Kooperation. Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher vor einer Gefahr geschützt oder der Verdacht einer Gefährdung abgeklärt werden müsse, stelle sich die Frage, ob und inwieweit mit anderen Fachkräften, Stellen, Betroffenen über den Einzelfall überhaupt kommuniziert werden darf. Die Referentin wies dabei darauf hin, dass Vernetzung als Merkmal Früher Hilfen von der Zusammenarbeit im Einzelfall der Kindeswohlgefährdung zu unterscheiden sei. So sei zum einen eine Zusammenarbeit ohne Austausch von Informationen nicht möglich, gleichzeitig jedoch auch nicht sozial- und psychotherapeutische Arbeit ohne Vertrauensschutz. Aus diesem Grund benötige eine effektive Kooperation der Frühe-Hilfe-Netzwerke Rechtssicherheit und Fachkräfte, die sich über die Möglichkeiten und Grenzen von Kooperation im Klaren seien. Frau Schindler ging in ihrem Vortrag auf die hierfür wesentlichen Inhalte des Bundeskinderschutzgesetzes und die konkrete Vorgehensweise bei Kindeswohlgefährdung ein. Immer sei auch eine Abwägung im Einzelfall zwischen notwendiger Kommunikation im Hilfesystem einerseits und Vertrauensschutz andererseits nötig.

Referentin Gila Schindler
Gila Schindler

Ullrich Böttinger, Psychologischer Psychotherapeut und Leiter der Psychologischen Beratungsstelle des Landratsamts Ortenaukreis in Offenburg, stellte das Konzept der Frühen Hilfen im Ortenaukreis vor und referierte die ersten sehr positiven Ergebnisse und auch die Perspektiven eines regionalen Netzwerkes der Regelversorgung. Bemerkenswert an diesem Projekt ist, dass alle Entbindungskliniken des Landkreises in das Projekt einbezogen sind und alle Eltern auf das Projekt hinweisen. Im Detail hat der Ortenaukreis ein umfassendes Konzept Frühe Hilfen für Eltern und Kinder von 0 – 3 Jahren in besonderen Belastungssituationen entwickelt und implementiert. Die Ziele des Konzeptes sind Stärkung eines gesunden Aufwachsens der Kinder, Stärkung elterlicher Beziehungs- und Erziehungskompetenzen, Vermeidung ungünstiger Entwicklungsverläufe und die Vermeidung von Kindeswohlgefährdungen im Vorfeld. Der präventiv ausgerichtete Ansatz basiert auf den drei Säulen Weiterentwicklung und Optimierung der Netzwerkstruktur, Verbesserung der Früherkennung und der frühen Erreichbarkeit sowie Entwicklung geeigneter Hilfen für besondere Zielgruppen. Wie Böttinger ausführte, wird das bundesweit auf großes Interesse gestoßene Konzept seit 2009 als integrierter Bestandteil der Regelversorgung mit solider Finanzierungsgrundlage umgesetzt. Neu eingerichtet worden seien fünf Fachstellen für Frühe Hilfen an den Erziehungs- und Familienberatungsstellen im Landkreis, ein Präventionspool zur Finanzierung zugehender Hilfen wie Familienhebammen und Frühen Familienhilfen sowie eine Babysprechzeit an der Kinderklinik. Besonders mit den Entbindungskliniken finde eine enge Zusammenarbeit bei Früherkennung und früher Hilfeanbahnung auf Grundlage eines Screeningbogens statt. Inzwischen liege umfangreiches quantitatives und qualitatives Datenmaterial zur Inanspruchnahme, vorliegenden Belastungen, Hilfeverläufen und systemübergreifenden Vernetzungsstrukturen auf Grundlage der Praxiserfahrungen in über 1000 Fällen aus über 10.000 Geburten vor. Sehr viele Familien mit teilweise erheblichen psychosozialen Belastungen, nicht selten auch mit manifesten psychischen Erkrankungen würden durch die Frühen Hilfen wesentlich früher als bisher erreicht. Psychotherapeutische Kompetenz sei sowohl in den neu eingerichteten Fachstellen als auch im Netzwerk in hohem Maße gefragt.

Referent Ullrich Böttinger
Ullrich Böttinger

Dr. Barbara von Kalckreuth, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, und Christiane Wiesler, Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, beide aus Freiburg, vermittelten Einblicke in die Theorie der Säuglingsbeobachtung und stellten anhand von Fallbeispielen ihre praktische Arbeit mit Säuglingen, Kleinkindern und deren Eltern vor. Ausgehend vom szenischen Verstehen im Sinne Argelanders fokussierten sie insbesondere die Themenbereiche Triangulierung, Containment und Mentalisierung.

Referenten Dr. Barbara von Kalckreuth und Christiane Wiesler
Dr. Barbara von Kalckreuth und Christiane Wiesler

Sigrun Häußermann, Geschäftsbereich Qualitätssicherung/Verordnungsmanagement der Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg, Stuttgart, stellte das Projekt der KVBW vor, in dem die Vernetzung vertragsärztlicher Qualitätszirkel mit Frühen Hilfen etabliert wurde. Dieses Vernetzungsprojekt werde seit September 2010 in Zusammenarbeit mit Vertragsärzten/innen, Psychotherapeuten/innen und Mitarbeitern/innen der Jugendhilfe durchgeführt. Es gehe dabei vor allem um die Kooperation im Rahmen von Frühen Hilfen, d.h. um die Vermittlung von niederschwelligen Hilfsangeboten an Schwangere und Familien mit kleinen Kindern mit psychosozialen und/oder wirtschaftlichen Belastungen.

Sigrun Häußermann
Sigrun Häußermann
Hausärztinnen/-ärzte, Kinder- und Jugendärztinnen/-ärzte, Frauenärztinnen/-ärzte, sowie Psychotherapeutinnen/-therapeuten seien oft die ersten und einzigen Fachkräfte, die ungeborene oder kleine Kinder auf ihre gesunde seelische und körperliche Entwicklung hin untersuchen. Sie können schon zu einem frühen Zeitpunkt den Hilfebedarf von Kindern und ihren Eltern erkennen. Um rechtzeitig und präventiv Hilfe für Kinder anbieten zu können, sollte die ganze Familie in den Blick genommen werden. Schwerpunkt des Konzeptes sind gemeinsame, interdisziplinäre Familienfallbesprechungen. Frau Häußermann thematisierte Schnittstellenprobleme, die vor allem zwischen ärztlicher/ psychotherapeutischer und Jugendhilfe bestehen, die zum einen in der Unterschiedlichkeit der Struktur und Arbeitsorganisation beider Systeme liegen. Während erstere als selbständige Unternehmer weitgehend autonom und schnell entscheiden können, arbeiten Mitarbeiter der Jugendhilfe im Angestelltenverhältnis, eingebunden in hierarchische Entscheidungsstrukturen, in denen Entscheidungen im Team getroffen werden und entsprechend länger dauern. Ein zusätzlich Problem bestehe darüber hinaus darin, dass beide am Ende einer Verantwortungskette stehen mit der Gefahr einer gegenseitigen Zuweisung der letzten Verantwortung. Die Idee des KVBW-Projektes liege darin, Qualitätszirkel als gemeinsames fachliches Forum für die Vernetzung von Ärzten und Psychotherapeuten und Mitarbeitern der Jugendhilfe im Sinne von Familienfallkonferenzen zu nutzen. Mit der Einführung dieser Konferenzen sei die Kompetenz der Beteiligten zur Fallarbeit gewachsen, das professionelle Bewusstsein zu eigenen Handlungsgrenzen gefördert worden und das Bewusstsein über die Komplexität von Problemlagen gestiegen. Das steigende Bewusstsein führe aber auch zu Verunsicherung im Hinblick auf präzisere Risikoeinschätzung und das eigene Handeln. Inzwischen sind 12 Land- und 9 Stadtkreise in Baden-Württemberg an dem Projekt beteiligt, weitere 16 Landkreise haben ihr Interesse bekundet.

Die zahlreiche Teilnahme sowie auch die Nachfragen zu den Vorträgen unterstrichen das breite Interesse, das dieses Thema auch für unsere Kammermitglieder offensichtlich hat. Die Foliensätze der Vorträge sind nachfolgend, ebenso abrufbar wie auch der von U. Böttinger ausgelegte und schnell nicht mehr verfügbare Flyer zum Frühe-Hilfen-Projekt im Ortenaukreis.



Dokumente zum Download:



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