21.5.2013Trauer ist keine psychische Krankheit
BPtK warnt vor dem Aufweichen diagnostischer Kriterien

(BPtK) Die Bundespsychotherapeutenkammer warnt davor, die diagnostischen Kriterien für psychische Erkrankungen aufzuweichen. Anlässlich der morgen erscheinenden Neufassung des Diagnostik-Handbuchs für psychische Störungen DSM-V in den USA, kritisiert BPtK-Präsident Prof. Dr. Rainer Richter, dass darin Trauer nach dem Verlust einer nahestehenden Person bereits nach zwei Wochen als Krankheit eingestuft werden kann. „Wer intensiv trauert, erfüllt zwar häufig formal die Kriterien einer Depression, ist aber nicht krank“, stellt der BPtK-Präsident fest. „Die meisten Trauernden verkraften ohne Behandlung den Verlust einer geliebten Person. Der Schmerz von Trauernden kann durchaus Monate oder über ein Jahr dauern und sollte nicht als behandlungsbedürftig gelten.“

Die „American Psychiatric Association“ (APA) veröffentlicht am 18. Mai 2013 die fünfte Fassung ihres Handbuchs DSM-V („Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders V“). Das Handbuch wird auch die Neufassung des Klassifikationssystems ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) beeinflussen. Im Kapitel V des ICD-10 sind die psychischen Erkrankungen beschrieben, aufgrund derer ein Mensch in Deutschland von Ärzten und Psychotherapeuten als krank diagnostiziert werden kann. „Für die Entwickler des ICD-11 sind die Kritikpunkte am DSM-V sicherlich wichtige Warnsignale“, sagt BPtK-Präsident Richter.

Auch bei ADHS dürften die WHO-Experten nicht den US-Psychiatern folgen. Zukünftig müssen im DSM-V motorische Unruhe und mangelnde Konzentrationsfähigkeit erstmalig vor dem zwölften Lebensjahr aufgetreten sein. Bisher gilt die Regel, dass diese Symptome bereits vor dem siebenten Lebensjahr zu beobachten gewesen sein müssen, damit eine ADHS-Diagnose gestellt werden kann. Mit dem Heraufsetzen des Lebensalters erhöht sich die Anzahl der Kinder und Jugendlichen, aber auch der Erwachsenen, die eine ADHS-Diagnose erhalten können, erheblich. „Die ADHS-Kriterien sollten jedoch ausschließen, dass darunter auch Kinder und Jugendliche erfasst werden, die in erster Linie spezifische schulische oder berufliche Probleme haben“, fordert BPtK-Präsident Richter. In Deutschland erhält knapp jeder fünfte Junge zwischen dem siebten und zwölften Lebensjahr eine ADHS-Diagnose und circa jeder zehnte Junge bekommt im Laufe der Kindheit und Jugend mindestens einmal Methylphenidat verordnet. „Angesichts dieser Häufigkeiten ist auch in Deutschland von einer deutlichen Überdiagnostik und pharmakologischen Übertherapie bei ADHS auszugehen“, kritisiert BPtK-Präsident Richter.

Schließlich geraten auch Wutausbrüche von Kindern und Jugendlichen in das erweiterte diagnostische Raster des US-Psychiatrie-Handbuchs. „Die neue Diagnose „Disruptive Mood Dysregulation Disorder“ (DMDD) ist ein hilfloser Versuch, eine US-spezifische Überdiagnostik von bipolaren Störungen bei Kindern in den Griff zu bekommen“, erklärt BPtK-Präsident Richter. „Damit wird allerdings der nächsten Diagnose-Epidemie der Weg gebahnt.“ Grundsätzlich sei die Forschung zu überdurchschnittlich häufigen und starken Wutausbrüchen vor allem bei Jungen viel zu dürftig, um damit eine neue diagnostische Kategorie zu begründen. „Dabei ist das Risiko sehr groß, heftige emotionale Reaktionen von Kindern und Jugendlichen in Reifungskrisen als krank abzustempeln. Insbesondere drohen andere Gründe für wiederholte Temperamentsausbrüche wie ungelöste Konflikte mit Eltern, Lehrern oder Gleichaltrigen aus dem Blick zu geraten.“

Sinnvoll erscheint dagegen die Aufnahme des pathologischen Glückspiels als Verhaltenssucht in das DSM-V. Bisher war krankhaftes Glücksspiel unter den Impulskontrollstörungen eingruppiert. Die Mechanismen dieser psychischen Erkrankung sowie deren Behandlungsverläufe legen jedoch eine Korrektur dieser Einordnung nahe. Insbesondere die massiven Auswirkungen des Glücksspiels, wie z. B. ruinös hohe Schulden, rechtfertigen es, von einer Verhaltenssucht zu sprechen.

Auch wiederholte Heißhungerattacken (Binge-Eating-Störung) können eine psychische Erkrankung sein. Kritisch erscheint aber, dass die Kriterien für Häufigkeit und Dauer der Essanfälle im DSM-V deutlich abgesenkt wurden. Danach soll eine Person bereits dann krank sein, wenn sie drei Monate lang einmal pro Woche die Kontrolle darüber verliert, wie viel sie isst. Bisher lag das diagnostische Kriterium für diese Essstörung bei mindestens zwei Anfällen pro Woche über mindestens sechs Monate. Abgesehen von dieser willkürlichen Festlegung, für die es keine empirische Evidenz gibt, sollten als zusätzliche Kriterien außerdem die Gewichtszunahme berücksichtigt bzw. diese Diagnose bei nur leichtem Übergewicht ausdrücklich ausgeschlossen werden.

 
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