10.12.2013Fachtag "Kultursensible Psychotherapie: Kinder/Jugendliche mit Migrationshintergrund"

Wie bereits im PTJ 4/2013 kurz berichtet, fand am 23.11.2013 im Stuttgarter Geno-Haus der LPK-Fachtag zur „Kultursensiblen Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ statt. Die interessanten Vorträge sind hier zusammengefasst. Als Referenten konnten Prof. Renate Schepker (Weissenau, Ravensburg), Prof. Jan Kizilhan (Freiburg), Jürgen Heinz (Stuttgart) und Claudia Burkhardt-Mußmann (Frankfurt) gewonnen werden.

Prof. Dr. Kizilhan beschreibt in seinem Vortrag die Auflösung von herkunftsorientierten sozialen Netzwerken und die darauf folgende Veränderung der Identität von Jugendlichen der nächsten Generation, die noch immer eng mit dem Kollektiv verbunden ist. Das Gleichgewicht zwischen internaler und externaler Identifikation gestaltet sich laut Prof. Kizilhan schwierig. Er spricht hier vom transkulturellen Raum, in dem unterschiedliche kulturelle Bedeutungszuschreibungen präsent sind und gleichzeitig im Verständigungsprozess neu erschaffen und mit kultureller Bedeutung versehen werden können.

Eindrucksvoll skizziert Prof. Dr. Kizilhan die kulturspezifischen Syndrome, ohne deren Verständnis eine Therapie von Patienten mit Migrationshintergrund nicht möglich sei und die mit für uns ungewöhnlichen Bezeichnungen wie z. B. „brennende Leber“ benannt werden. Dieses bedeutet Traurigkeit, Sorgen und schweres Leid zu haben. Es äußert sich durch Leber- und Oberbauchschmerzen; es wird in den entsprechenden Kulturkreisen durch Rezitationen aus dem Koran und durch Kräuter gelindert. Assoziiert wird Kummer, auch Liebeskummer und Sorgen. Bemerkenswert ist der Unterschied in den Krankheitsdiagnosen der ersten und vierten Generation der Migrantenfamilien. Während die erste Generation erheblich mehr an somatoformen Krankheiten leidet, steigt der Anteil der Patienten der vierten Generation in den Bereichen Ess-und Persönlichkeitsstörungen.

Kizilhan beschreibt bei Menschen mit Migrationshintergrund Psychotherapie als salutogene Narration zur Biographie und Identitätsarbeit. Durch Narration werde die Vergangenheit rekonstruiert und verdrängte und vergessene Erinnerungen bewusst. Der Beziehungsaufbau in der Therapie sei besonders wichtig, da es hohe Abbruchquoten gebe. Kultursensible Techniken wie Märchen oder „erzähl von Dir“ seien wertvolle Angebote. Prof. Dr. Kizilhan schließt seinen Vortrag: „Durch Neugier, Verständnis und Nachfragen des Therapeuten werden die möglichen kulturellen Codierungen im therapeutischen Prozess aufgelöst und eine transkulturelle Arbeit in verschiedenen kulturellen Welten entwickelt sich.“

Prof. Dr. Renate Schepker stellt verschiedene Definitionen von Kultur vor, z.B. Kultur als „ein gemeinsames für alle verbindliches System von bedeutungshaltigen Zeichen, die Welt und sich selbst in einer bestimmten Art wahrzunehmen, zu interpretieren und zu behandeln, wie es die eigene Gemeinschaft akzeptiert und versteht.“ Dies bedeute, dass es in der Sicht verschiedener Kulturen automatisch divergierende, sich widersprechende Wahrnehmungen, Interpretationen, Handlungsweisen und Lösungsmöglichkeiten gebe. Prof. Schepker stellt fest, dass es auch in einer therapeutischen Beziehung keine kultur-freie Beziehung gibt. Sie führt weiter aus, dass nach Brightman (1995) auf den Begriff Kultur sogar ganz verzichtet werden sollte, da eine Vielzahl von Begriffen wie z. B. Ethnizität, Rasse, Bildung, Migrationszeitpunkt, Aufenthaltsstatus einen einheitlichen Status für eine Menschengruppe unmöglich machen. Es wird auf die Gefahren einer transkulturellen Psychotherapie hingewiesen. Patienten könnten in einer bestimmten Projektion dessen, was der Therapeut meint, über sie zu wissen, fixiert werden. Ein Nicht-Wissen ist jedoch genauso fatal, da wir mit unserer „euroamerikanischen Mehrheitsperspektive“ zu Fehldiagnosen neigen könnten. Interkulturelle Kompetenz setzt sich aus kognitiver Kompetenz, prozeduraler Kompetenz und Haltungskompetenz zusammen. Im Vortrag wurde die juristische Lage von Migrantenfamilien dargelegt, wobei besonders darauf hingewiesen wurde, dass Zwangsheiraten in Deutschland strafbar seien. Anhand der Frage, ob die Selbständigkeit und Ablösung in der Adoleszenz Entwicklungsziel aller Jugendlichen sein, verdeutlicht der Vortrag, dass es eine neue Begrifflichkeit für Zuwanderer geben sollte. Mecherill und Hoffarth entwickelten 2006 die These, dass die Theorie der ubiquitären Entwicklungsschritte verlassen werden müsse und die Adoleszens nicht identitätstheoretisch sondern zugehörigkeitstheoretisch diskutiert werden sollte. Dadurch könnte auch die Mehrfachzugehörigkeit gestützt werden. Günter in King und Holler führen erweiternd aus, dass Trennung und Bindung starke Themen der Migraton seien; die Selbstverankerung in der Aufnahmegesellschaft werde ohne Rückbindung an die vertrauten Beziehungspersonen erschwert.

Prof. Schepker empfiehlt für die Psychotherapie, wie Prof. Kizilhan, eine offene, fragende Haltung, eine kulturelle Bescheidenheit, Neugier und eine nicht fordernde Beziehungsperspektive, ähnlich der gleichschwebenden Aufmerksamkeit des Psychoanalytikers. Außerdem wird die Systemische Familientherapie als erfolgversprechend benannt. Der Vortrag schließt mit der positiven Sichtweise, einen Migrationshintergrund als Entwicklungsvorteil zu begreifen.

Claudia Burkhardt-Mußmann berichtet über Erfahrungen aus dem Präventionsprojekt „ERSTE SCHRITTE“ (ESP), einem Kooperationsprojekt des Sigmund Freud Instituts (SFI) und des Anna Freud Instituts (AFI), beide Frankfurt. Im Rahmen des Projekts werden zwei verschiedene Angebote während der ersten drei Lebensjahre der Kinder gemacht. Angebot A folgt einem Curriculum, das sich an der kindlichen Entwicklung in dieser Zeit orientiert. Angebot B versucht ausschließlich die selbstorganisierenden Kräfte der Familien in nicht professionell geleiteten Gruppen zu nutzen. Die Zielgruppe sind Migrantenmütter mit Kindern im Alter von 0-1,5 Jahren. Die Teilnehmerinnen werden in den obligatorischen Integrations-und Sprachkursen gewonnen. Die Gruppenleiterinnen sind verantwortlich für die Rekrutierung in den Sprachkurseinrichtungen. Die Intervention umfasst ein 1,5-stündiges wöchentliches Gruppenangebot für die Dauer von drei Jahren (bis zum Eintritt in den Kindergarten). Die Gruppenleiterinnen sorgen für die Vor- und Nachbereitung, Erhebung von Forschungsdaten und Protokollierung der Gruppensitzungen. Die Gruppengröße umfasst 6-8 Mütter mit Kindern, 2 Gruppenleiterinnen und 1 Praktikantin.

Ein wichtiger Schritt ist die Professionalisierung der Mitarbeiterinnen. Curriculum, Fallsupervision und Praxisreflexion (PR) bilden dabei die Bausteine. Im ersten Jahr finden Supervision und Praxisreflexion wöchentlich statt, im 2. und 3. Jahr vierzehntätig. Die curriculare Wissensvermittlung erfolgt monatlich. Vermittelt werden altersgerechte professionelle Erkenntnisse für Kinder und Eltern mit Schwerpunkt auf Empathie- und Bindungsentwicklung bis zum 12. Monat und anschließendem Fokus auf Separation-Individuation- und Aggressionsentwicklung.

Die Migration und der Umgang mit ihr ist, so Claudia Burkhardt-Mußmann, immer auch ein politisches Thema. Der frühkindliche Bereich werde seit ungefähr 10 Jahren bildungspolitisch verschärft in den Blick genommen, wobei vor allem Bildungsverlierer fokussiert würden, z. B. Kinder mit Migrationshintergrund. Aus dem Projekt ließen sich mehrere Bedingungen ableiten: 1. es müsse ausreichend Zeit und Raum zur Verfügung gestellt werden, 2. migrationsspezifische Prozesse müssten konzeptuell verankert werden und 3. müsse die Bereitschaft zu einer nachsuchenden Kontaktaufnahme vorhanden sein.

Eine hohe Professionalisierung der Gruppenleiterinnen ist gefordert. Der haltgebende Umgang mit den Projekt-Teilnehmerinnen stellt hohe Anforderungen an die Gruppenleiterinnen. Kränkungen, Verunsicherungen, Enttäuschung, Anspannung und auch Wut müssen verarbeitet werden. Auszuhalten, dass jemand über einen längeren Zeitraum nicht kommt, obwohl er viele Hilfsangebote erhält, lässt ein gefühltes Ungleichgewicht von Geben und Nehmen entstehen. Mit wöchentlicher Fallsupervision (1 1/2 Std.) und wöchentlicher Praxisreflexion (3 Std) im ersten Jahr und 14-tägiger Supervision im 2. Jahr sowie 14-tägiger Praxisreflexion entstand ein dichtes Netz von Bearbeitungsmöglichkeiten.

In Programmen wie „Frühe Hilfen“ oder „Elternchance ist Kinderchance“ (MFSJuF) werden Wege ins Auge gefasst, um Brücken zu bauen und die schwere Erreichbarkeit der Bedürftigen zu überwinden. Der Schwerpunkt wird dabei auf die schlichte Übertragung von Bildungsindikatoren auf die Ungebildeten gelegt, die Vermittlung beruht auf Einsicht und Kognition auf Seiten der Eltern. Kompetenzen sollen gelehrt und gelernt werden. Migrationsspezifische Konzepte kommen nicht vor. Eine Professionalisierung, die sich auf die Bearbeitung der Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung konzentriert, ebenfalls nicht. An eine möglichst lange Begleitung der Familien wird nicht gedacht. Stattdessen wird eine möglichst frühe Krippenbetreuung nach dem vollendeten 1. Lebensjahr angestrebt. Es erhebt sich die Frage, ob die Attraktivität von außerfamiliären Betreuungseinrichtungen darin begründet liegt, dass sie kontrollierbarer und machbarer erscheinen.

Burkhardt-Mußmann stell kritisch in den Raum, ob diese Quantifizierung der frühkindlichen Kinderwelt zu der Annahme verführt, Bildungerechtigkeit sei zu schaffen, indem Bildungselemente wie Bücher/Vorlesen/Würfelspiele aufgegriffen und den Bildungsverlierern zur Verfügung gestellt werden. Die einzige Hürde, die allerdings auch die größte ist, bestünde dann darin, die Zielgruppe überhaupt zu erreichen. Die Realität ist aber in jeder Hinsicht komplexer. Die Voraussetzung für eine gelingende Interaktion basiert auf Einfühlung. So müssen Geschichten, Bücher und Interaktionsformen der Verfassung von Kindern angepasst sein, ihre Gemütslage aufgreifen, dafür Worte finden, und sie – gegebenenfalls – modulieren.

Claudia Burkhardt-Mußmann hebt abschließend hervor, dass die Erfahrung im Rahmen des Projekte zeige, dass Mütter immer dann für ein Thema interessiert werden konnten, wenn sie nach ihren eigenen Erfahrungen gefragt wurden, z. B. wie sie selbst früher gespielt haben. Ihre Erinnerungen begannen mit Spielen, die Wettkampfcharakter hatten oder Rollenspiele waren. Burkhard Mussmann beschließt ihren Vortrag mit der Projektvorstellung.

Jürgen Heinz schlägt den Bogen zur psychotherapeutischen Behandlung und berichtet über die innerpsychische Problematik der Familien mit Kindern, die Migrationserfahrung haben. Zunächst hebt er hervor, dass knapp ein Drittel der Menschen mit Migrationshintergrund keine eigene Migrationserfahrung habe und dass dieser Gruppe die meisten Patientinnen und Patienten in seiner Praxis angehöre. Es seien Kinder und Jugendliche, die dauerhaft nie in einem anderen Land als Deutschland gelebt haben und sich trotzdem entweder selbst nicht als Deutsche fühlen oder von den Menschen ihrer Umgebung nicht als Deutsche wahrgenommen und akzeptiert werden.

Es können drei Schritte der Integration und damit der Individuation unterschieden werden (Machleidt 2013, S. 21f in Anlehnung an Erdheim 1992 und 1994):

  1. Nach der Geburt unterscheidet das Kind die vertrauten Bezugspersonen Mutter und Vater von den nicht vertrauten Menschen, die ‚Nicht-Mutter’ und ‚Nicht-Vater’ sind.
  2. In der Adoleszenz sind dem Jugendlichen das Eigene, die Ursprungsfamilie und die Peer Group vertraut. Er begegnet dem Fremden in Form des ‚Nicht-Eigenen’, der Intim- und Sozialpartner sowie der Gesellschaft. Während sowohl Einheimische als auch Zuwanderer die beiden ersten Individuationsschritte leisten müssen, müssen Migranten eine zusätzliche Ablösung bewältigen und einen dritten Neuanfang bestehen: die Migration als dritte Individuation.
  3. Migranten sind ihre Ursprungskultur, ihre Muttersprache und ihr Vaterland/ihre Heimat vertraut. Fremd sind ihnen die Aufnahmekultur, die unbekannte Sprache und das Ausland. All das gilt es in einem dritten Individuationsschritt zu integrieren.

Jürgen Heinz hebt hervor, dass viele MigrantInnen, die psychotherapeutische Hilfe suchen, schon vor ihrer Auswanderung traumatisiert worden seien. Oft habe die Migration, die selbst traumatisierende Elemente enthält, diese früheren Traumata überlagert, alte neurotische Bewältigungsmuster werden noch verstärkt.

  1. Trennung als Verlust und Abbruch: Der Verlust der Heimat wird wie der Tod eines geliebten Menschen erlebt
  2. Einsamkeit und mangelndes Zugehörigkeitsgefühl: Nur wer über ‚gute’ innere Objektrepräsentanzen verfügt, kann Trennungen und die Abwesenheit vertrauter Objekte aushalten.
  3. Migration als Bedrohung der Identität: Migration löst immer eine Art ‚Kulturschock’ aus. Dieser Schock in Verbindung mit Trauer hat eine Identitätsverunsicherung zur Folge
  4. Regression oder Infantilisierung als Folgen der Migration: Wer eine neue Sprache lernen muss, kommt sich vor wie ein kleines Kind, das nicht versteht, was die Erwachsenen reden.
  5. Aufgeschobenes Trauern als Auswirkung von Migration: Spaltungsprozesse, bei denen das Herkunftsland idealisiert und die neue Kultur abgewertet werden – oder umgekehrt – dienen der Abwehr, um seelischen Schmerz und starke Schuldgefühle zu verleugnen und Trauerarbeit zu vermeiden.

Für Kinder kämen zusätzlich zu den äußeren Faktoren noch entwicklungs- und phasenspezifische Probleme hinzu. Jüngere Kinder würden immer exiliert; sie könnten nicht mitentscheiden und litten dann nicht nur unter den Folgen eigener Verluste, sondern auch an der durch die Migration ausgelösten. Hinzu käme oft eine Destabilisierung der psychischen Strukturen ihrer Eltern, die ihnen dann nicht den für ihre Entwicklung notwendigen Halt geben könnten. Die Adoleszenz hingegen sei die Phase der Trennung und Umgestaltung. Weil in Migrantenfamilien der Bildungserfolg in der Regel eine besondere Rolle spiele, gebe es, so Jürgen Heinz, einen hohen Erwartungsdruck auf die jugendlichen Kinder. Dieser Druck stehe den adoleszenten Ablösungs- und Individuationsprozessen entgegen. Kinder und Jugendliche würden (teilweise) parentifiziert, weil sie die Sprache und die sozialen Spielregeln des Aufnahmelandes schneller verinnerlichten als ihre Eltern. Jürgen Heinz schließt seinen Vortrag mit 2 Fallbeispielen.

Zusammenfassung: Kristiane Göpel, Vorstandsmitgleid der LPK BW

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