Landespsychotherapeutentag 2015

Ambulante psychotherapeutische Versorgung – aktueller Stand und Perspektiven

Dr. Dietrich Munz
(LPK BW)

Der Landespsychotherapeutentag fand dieses Jahr in der Alten Reithalle des Maritim-Hotels Stuttgart statt. Dr. Dietrich Munz, Kammerpräsident und seit Mai auch gewählter Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, konnte zahlreiche Mitglieder und Gäste zum Thema „Ambulante psychotherapeutische Versorgung – aktueller Stand und Perspektiven“ begrüßen. Wie er eingangs feststellte, habe Baden-Württemberg eine im bundesweiten Vergleich über dem Durchschnitt liegende Versorgung mit niedergelassenen Psychotherapeuten und auch mit stationären psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhausbetten. Eine Besonderheit im bundesweiten Vergleich bestehe in dem 2008 zwischen der AOK BW und dem Hausärzteverband sowie dem Medi-Verbund abgeschlossenen Hausarztvertrag, der 2012 um den sogenannten PNP-Vertrag zur selektivvertraglichen Versorgung in Psychotherapie, Neurologie und Psychiatrie erweitert wurde. Dies bedeute eine gewollte Konkurrenz zwischen dem System der Kollektivversorgung über die KV und dem Selektivvertragssystem. Diese Rahmenbedingungen für die psychotherapeutische Versorgung seien mit ein wesentlicher Teil der folgenden Referate und sicher auch der Diskussion.

Darüber hinaus ging Dr. Munz auf die Konsequenzen des jüngst im Bundestag verabschiedeten GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) ein. Für die vertragsärztliche Versorgung seien damit einige Chancen für die Verbesserung der Versorgung für Menschen mit psychischen Erkrankungen innerhalb des GKV-Systems eröffnet worden. Die vorgesehene Sprechstunde für Psychotherapeuten ermögliche es, Patienten beim ersten Gespräch zu beraten, welches Hilfsangebot sinnvoll und notwendig sei. Dies könne neben der Aufnahme einer ambulanten Psychotherapie die Empfehlung einer Präventionsmaßnahme oder einer Selbsthilfegruppe oder auch die Verordnung einer stationären Psychotherapie im Krankenhaus oder einer Rehabilitationseinrichtung sein. Eine Verbesserung solle auch dadurch erreicht werden, dass künftig in psychotherapeutischen Praxen das Jobsharing erleichtert bzw. im Sinne der Versorgung verbessert werden solle. Gleichzeitig habe der Gesetzgeber, so Dr. Munz, jedoch die Regelung zur Nachbesetzung bei der Praxisübergabe verschärft, indem er fordere, in Regionen mit einem offiziellen Versorgungsgrad von mehr als 140 Prozent die Anträge auf Nachbesetzung abzulehnen. Davon wären dann bundesweit über 4.000 psychotherapeutische Praxen betroffen. In Baden-Württemberg wären dies ca. 600 der aktuell etwa 3.000 Psychotherapeutenpraxen, also knapp 20 %.

„Dies würde zu einer drastischen Verschlechterung der psychotherapeutischen Versorgung im Land führen, die verhindert werden muss“ mahnt Dr. Munz. Er sehe einen kleinen Lichtblick am Horizont, da der GB-A durch das Gesetz beauftragt sei, die Bedarfsplanungsrichtlinie bis Anfang 2017 grundlegend zu überarbeiten. Falls hierbei zukünftig tatsächlich die Häufigkeit psychischer Erkrankungen berücksichtigt werde, wäre dies ein wesentlicher Fortschritt. Die Bundespsychotherapeutenkammer fordere deshalb, den Abbau von psychotherapeutischen Praxen so lange auszusetzen, bis eine neue Bedarfsplanung vorliegt.

Ministerialrat Ansgar Lottermann

Danach sprach Ministerialrat Ansgar Lottermann als Vertreter des Sozialministeriums. Er ging auf die Psychotherapie-Ausbildungsreform ein und vertrat die Auffassung, dass eine Approbation am Ende des Studiums unabdingbar sei und dass man deshalb einen Studiengang mit Staatsexamen brauche. Er sehe eine Bachelor-Master-Systematik kritisch, da es bei allen anderen Heilberufen ausschließlich einen Staatsexamen-Studiengang gebe. Des Weiteren sei es ihm nicht verständlich, weshalb keine vorgezogene Reform der Zugangsvoraussetzungen für die Psychotherapieausbildung stattfinde, nachdem klar sei, dass sich die Reform noch lange hinziehen werde. Die Länder hätten einen entsprechenden Entwurf ausgearbeitet. Dann führte er aus, dass zwischenzeitlich der Entwurf für die Novellierung des Heilberufekammergesetzes dem Kabinett vorliege. Für die Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten sei vorgesehen, dass eine freiwillige Kammermitgliedschaft ab Beginn der Ausbildung möglich sei und nicht erst zu Beginn des praktischen Teils.

Prof. Dr. Rainer Richter

Im ersten Fachvortrag stellte Prof. Dr. Rainer Richter, Präsident der LPK Hamburg und bis Mai BPtK-Präsident, Fakten zum gegenwärtigen Stand der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung vor als Grundlage für eine bedarfsgerechte Zukunftsplanung. Prof. Richter wies anhand empirischer Daten darauf hin, dass psychische Erkrankungen häufige und ernste Erkrankungen seien. Die 12-Monate-Prävalenz von ca. 30 % zeige sich zuletzt im großen und aktuellen Gesundheitssurvey des Robert-Koch-Institutes, dessen Daten sehr belastbar seien, da vor allem klinische, strukturierte Interviews von neutralen Experten durchgeführt worden seien. Darüber hinaus verwies Prof. Richter auf einen Vergleich zwischen Patienten in unterschiedlichen Versorgungssektoren und der Normalbevölkerung, aus dem hervorgehe, dass die in der ambulanten Psychotherapie behandelten Patienten durchschnittlich ähnlich schwer erkrankt seien wie die in verschiedenen stationären Settings und darüber hinaus alle Patientengruppen sich sehr deutlich psychisch belasteter zeigen würden als die Norm. Dennoch lägen die Wartezeiten auf ein Erstgespräch im Bund bei 12,5, in Baden-Württemberg bei 11,4 Wochen. Wartezeiten bis Therapiebeginn betrügen 24 (Bund) bzw. 20,8 Wochen (Baden-Württemberg). Neben einem Ost-West-Gefälle gebe es außerdem ein Stadt-Land-Gefälle. Er verwies auf den Vorschlag der Studie von IGES und Bertelsmann zur Bedarfsplanung, die vor allem eine Änderung der Arzt/Psychotherapeut-Relation zur Bevölkerungszahl vorsieht und damit diese Gefälle ausgleichen könnte. Prof. Richter ging auch auf die Änderungen durch das GKV-VSG ein, die durchaus einige positive Ansätze enthalten würden. Er meinte allerdings, dass die vorgesehenen Sprechstunden nur sinnvoll innerhalb regionaler Vernetzungen funktionieren könnten und wenn Kooperationen vergütet würden. Auch die Befugniserweiterung sei sinnvoll, um zu einem entsprechenden bedarfsgerechten Angebot zu überweisen.

Andreas Vogt

Andreas Vogt, Leiter der Landesvertretung Baden-Württemberg der Techniker Krankenkasse, sprach zur aktuellen Problemlage in der Versorgung psychisch kranker Menschen aus Sicht der GKV. Er bezifferte den gesamtwirtschaftlichen Verlust aufgrund psychischer Erkrankungen mit 14 Milliarden Euro; die AU-Tage aufgrund psychischer Erkrankungen würden überall ansteigen und seien auf einem Rekordhoch. Baden-Württemberg liege allerdings signifikant niedriger als andere Länder. Die aktuelle Bedarfsplanung sehe er ebenfalls kritisch, er frage sich aber auch, wie sich jene ganzen Kassenarzt- bzw. Psychotherapeutensitze, die eher „Teilzeit“ geführt würden, in der Bedarfsplanung abbilden ließen. Darüber hinaus ergäben Analysen der TK-Daten, dass 25 % der Psychotherapien für Patienten mit „eher leichter Erkrankung“ (F43.2, F33.0 und F32.0) abgerechnet worden seien und 50 % der Therapien bis zur 12. Stunde beendet würden. Er frage sich, was in diesen Therapien tatsächlich passiere. Er kritisierte darüber hinaus die Zuordnung der Patienten zum Therapieverfahren. Die TK-Daten wiesen, wie auch andere, darauf hin, dass sich das Verfahren nicht nach den Diagnosen, sondern nach dem lokalen Angebot richte. Vogt forderte auch mehr Gruppentherapie, um vorhandene Ressourcen besser auf Patienten verteilen zu können sowie mehr Transparenz des therapeutischen Arbeitens. Insgesamt stelle sich für ihn die Frage, bei welchen psychischen Diagnosen eine Behandlung solidarisch finanziert werden müsste. In diesem Zusammenhang könnten auch internetbasierte Hilfsangebote (Beratung, onlinebasierte Psychotherapie) eine wichtige Rolle in der Versorgung spielen. Künftig sollten sich auch Präventionsmaßnahmen deutlich mehr auf die psychosoziale Gesundheit beziehen und die Gutachterpflicht für die Psychotherapie abgeschafft werden.

Jürgen Graf

Jürgen Graf, der für den verhinderten AOK-Vorstandschef Dr. Christopher Herrmann auftrat, fokussierte in seinem Vortrag die Selektivverträge. Diese, so Graf, hätten mit Wettbewerb, mit einem integrierten Leistungsmanagement und damit zu tun, Dinge voranzubringen,. Der Sachverständigenrat empfehle seit dem Gutachten 2000/2001 wiederholt eine sektorenübergreifende und integrative Versorgung sowie die Anpassung an die Erfordernisse von chronischen Erkrankungen und einer alternden Gesellschaft. Mit Selektivverträgen gebe es ein strukturiertes Aufeinanderbeziehen der Bereiche sowie eine klare Steuerung nach Diagnose mit dem Hausarzt als Basis. Ziel sei die Einbeziehung aller Facharztgruppen sowie auch die stationäre Versorgung. Alle Verträge seien miteinander verbunden und vernetzt, mit klaren Vorgaben der Kooperation, dazu würden auch 120 Mitarbeiter des Sozialen Dienstes gehören – er bezeichnete dies als „gelebte Integration“. Inzwischen seien landesweit über 500 Ärzte und Psychotherapeuten in das PNP-Modul eingeschrieben. Diese würden etwa 8.000 AOK-Versicherte versorgen mit inzwischen insgesamt 35.000 Einzelsitzungen im Jahr. Die höhere Vergütung am Anfang würde sich mit dem höheren Aufwand begründen, z. B. für Diagnostik, und der größeren Anstrengung in der ersten Therapiephase. Grundsätzlich müsse es so sein, dass bei einem begrenzten Angebot diejenigen zuerst versorgt werden, die den dringendsten Bedarf haben. Die AOK BW sehe die Selektivverträge als eine hervorragende Alternative zur Regelversorgung. Der entstehende Wettbewerb würde die Entwicklung schnell und innovativ machen. Graf hob abschließend hervor, dass die Selektivverträge auf Dauer angelegt seien und sich nicht als „Labor“ verstehen würden.

Prof. Dr. Thomas Schlegel

Im letzten Vortrag sprach der Frankfurter Medizinrechtler Prof. Thomas Schlegel über die Zukunft einer sektorenübergreifenden Versorgung. Das aktuelle Regelsystem würde, wie er ausführte, keine wirklichen Verzahnungen vorsehen und kein Geld für Kooperationen. Es gebe keine Fehlerkultur und die Prozessqualitäten wären mangelhaft. Sehr kritisch sei, dass sich das Denken in Sektorengrenzen über Jahre festgesetzt habe und nicht so schnell aufzulösen sei, vor allem nicht unter dem Diktat von Besitzstandswahrung. Letztlich sei aus seiner Sicht aber eine sektorenübergreifende und interdisziplinäre Versorgung notwendig. Statt einzelne Leistungen zu bezahlen, müsse es eine Gesamttherapiefinanzierung geben, mit Gesamttherapie-Kosten für eine Erkrankung, die dann unter den Behandlern aufgeteilt werden. Er selber halte in diesem Zusammenhang ein Selektivvertragssystem auf Basis des Hausarztes für nicht besonders günstig. Die Ideen in den Selektivverträgen zu integrierter Versorgung seien wichtig und gut, da Kollektive aus seiner Sicht grundsätzlich innovationsfeindlich seien. Als wesentliche Voraussetzungen für eine Verbreitung von Selektivverträgen seien allerdings Erkenntnisse über deren Prozess- und Ergebnisqualität zu sehen, ohne die man lieber nicht starten solle. Hier liege bislang noch ein großes Defizit. Absolut notwendig sei, neben einem fundierten medizinischen bzw. therapeutischen Konzept, die Bereitschaft zur Transparenz, der Aufbau einer Versorgungsgemeinschaft sowie der Abschluss eines Versorgungsvertrags mit der Krankenkasse, die fundierte Evaluation des Modells, eine betriebswirtschaftliche Betrachtung der Ergebnisse sowie daran anschließend die Entwicklung einer Fehlerkultur. Die Chancen eines solchen Vorgehens lägen in der Verbesserung der Versorgungsqualität, dem Erhalt der Therapiehoheit, der Schonung notwendiger Ressourcen und der Belohnung guter Qualität über eine Vergütung außerhalb der „Gießkanne“. Interessant sei auch die Einbettung von bisher versorgungsfremden Leistungen (z. B. Apps...).

In der von Cornelia Warnke, Berlin, moderierten Podiumsdiskussion, in die sich auch die Zuhörer einbrachten, wurden Vor- und Nachteile der kollektiv- und selektivvertraglichen Regelungen zum Teil sehr kontrovers diskutiert. Während vor allem AOK-Vertreter Jürgen Graf sowie einige darin eingebundene Therapeuten für eine Erweiterung bzw. Öffnung des Systems durch Selektivverträge warben, wiesen eine Reihe von Mitgliedern sowie auch die beiden auf dem Podium sitzenden Kammerpräsidenten darauf hin, dass Selektivverträge nur solange gut funktionieren könnten, solange es auch für die Mehrheit der Patienten eine kollektivvertragliche Regelung gebe. Die besonderen Rahmenbedingungen von Selektivverträgen, zum Beispiel die Vereinbarung, dass Patienten sehr schnell einen Therapieplatz bekommen können, könne ja nur so lange funktionieren, solange nicht die Mehrheit der Behandlungen so geregelt sei. Aus dem Publikum wurden die Kassenvertreter denn auch kritisch befragt, warum es die Bedingungen der Selektivverträge nicht für das Kollektiv geben könne.

Plenum in der Alten Stuttgarter Reithalle

Neben der Thematik der Selektiv-/Kollektivverträge wurden von den Kammermitgliedern auch andere kritische Punkte der psychotherapeutischen Versorgung aufgegriffen, so zum Beispiel die immer mehr um sich greifende Praxis, dass Psychotherapie-Kontingente nach Antragstellung von den Gutachtern häufiger nur teilweise genehmigt würden, zum Beispiel zunächst 15 Stunden und dann noch mal – nach einer zweiten schriftlichen Begründung – 10 Stunden. Dies sei für viele der niedergelassenen Psychotherapeuten eine unerträgliche Situation, da der bürokratische Aufwand in unverhältnismäßiger Weise steige.

Ebenso kritisch wurde diskutiert bzw. angesprochen, dass die Kosten für die ambulante psychotherapeutische Versorgung im bundesdeutschen Gesundheitswesen mit ca. 1,5 Milliarden Euro bei unter 10 % der Gesamtausgaben für psychische Erkrankungen lägen, und zum Beispiel doppelt so viel für die psychopharmakologische und etwa dreimal so viel für die stationäre psychiatrische Behandlung ausgegeben würde sowie weitere ca. 10 Milliarden Euro überhaupt nicht in fachspezifische Behandlungen flössen. Bei nachgewiesener hoher Effektivität und Effizienz ambulanter Psychotherapie sei hier eine deutliche Fehlallokation von Versichertengeldern und auch deren Umverteilung zu diskutieren.

Die Diskussion über die künftige psychotherapeutische Versorgung muss sicher weiter geführt werden und aufrechterhalten bleiben. Ein sehr wichtiger künftiger Schritt liege, wie Kammerpräsident Dr. Dietrich Munz abschließend hervorhob, vor allem auch in einer vernünftigen, d. h. sich am tatsächlichen Bedarf orientierenden Bedarfsplanung.

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