Genderaspekte in Prävention und Versorgung

BPtK-Symposium zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen

(BPtK)

Psychische Auffälligkeiten zeigen sich bei Mädchen und Jungen unterschiedlich. Jungen äußern ihre Probleme mehrheitlich nach außen, z. B. in Form von expansivem oder aggressivem Verhalten. Mädchen hingegen richten ihre Probleme vorwiegend nach innen, wirken eher traurig und ziehen sich zurück. Ob Mädchen, Jungen und ihre Familien bei psychischen Auffälligkeiten unterschiedlich angesprochen und behandelt werden sollten oder sogar müssen, war Thema eines Symposiums der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) am 16. Mai 2019 in Berlin.

„Prävention und Versorgung sollten einen Beitrag leisten, die gesundheitliche Chancengleichheit von Mädchen und Jungen zu verbessern“, stellte Dr. Dietrich Munz, Präsident der BPtK, in seiner Begrüßung fest. „Deshalb müssen wir kritisch prüfen, ob Geschlechtsunterschiede bereits ausreichend berücksichtigt werden, und wenn nicht, geeignete Maßnahmen entwickeln, um das zu erreichen.“ Moderator und BPtK-Vorstandsmitglied Wolfgang Schreck begrüßte, dass die verschiedensten Akteure aus dem Gesundheitswesen, der Kinder- und Jugendhilfe sowie dem Bildungs- und Sozialwesen an der Veranstaltung teilnehmen. Dadurch gebe es die Chance, über die Grenzen einzelner Hilfesysteme und Professionen hinaus zu diskutieren.

Psychische Auffälligkeiten bei Mädchen und Jungen

Epidemiologische Studien untermauern die Bedeutung von Geschlechtsunterschieden in der psychischen Gesundheit. Dr. Franz Baumgarten vom Robert Koch-Institut stellte dies anhand Auswertungen der KiGGS-Studie, bei der in den vergangenen 15 Jahren über 17.000 Kinder, Jugendliche und ihre Eltern aus ganz Deutschland befragt wurden, dar. Danach schätzen Eltern 19,1 Prozent der Jungen als psychisch auffällig ein. Das ist häufiger als bei Mädchen, von denen 14,5 Prozent als psychisch auffällig eingeschätzt werden. Während Auffälligkeiten bei Jungen vor allem im Zusammenhang mit aggressivem Verhalten und Hyperaktivität stehen, zeigen sie sich bei Mädchen vorwiegend in Form von emotionalen Problemen.

„Interessanterweise konnte in den letzten 15 Jahren in Deutschland ein leichter Rückgang psychischer Auffälligkeiten bei Jungen im Alter von 9 bis 17 Jahren beobachtet werden. Bei Mädchen zeigt sich hingegen in keinem Alter ein solcher Rückgang“, erläuterte Baumgarten. Über die Ursache dieses Rückgangs bei Jungen könne nur spekuliert werden. Es sei ungeklärt, ob Jungen von gesundheitspolitischen Maßnahmen zur Prävention und besseren Versorgung in den letzten 15 Jahren mehr profitiert hätten als Mädchen. Die Auswertungen der KiGGS-Studie würfe vor allem die Frage auf, ob psychische Auffälligkeiten bei Jungen und Mädchen mit gleicher Aufmerksamkeit wahrgenommen würden. Die vermehrt nach innen gerichteten psychischen Leiden von Mädchen blieben häufiger unentdeckt als diejenigen von Jungen und daher möglicherweise bis heute häufiger unversorgt. Besonders gefährdet seien jüngere Mädchen. Sie verfügten anders als Jugendliche noch nicht über die Möglichkeit, ihre eigenen psychischen Leiden zu erkennen und mitzuteilen und anders als Jungen fallen sie weniger häufig störend auf.

Deutlich höhere Kosten für die Versorgung von Jungen

Diesen Unterschied fasste BPtK-Vizepräsident Peter Lehndorfer in einer Beobachtung aus seiner langjährigen Praxistätigkeit als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut zusammen: „Jungen kämpfen mit den Monsterpuppen, Mädchen bringen sie ins Bett“. Wenn psychische Probleme bei Mädchen und Jungen unterschiedlich sichtbar würden, müssten Präventions- und Versorgungsangebote dem auch Rechnung tragen. „Davon sind wir weit entfernt“, stellte Lehndorfer fest. Die Versorgungsausgaben für psychische Störungen und Verhaltensstörungen bei Jungen unter 15 Jahren sind um rund 70 Prozent höher als diejenigen für Mädchen. Dieser Geschlechtsunterschied zeigt sich sowohl für stationäre und ambulante Behandlungen psychischer Erkrankungen als auch für erzieherische Hilfen in der Jugendhilfe. Im Jugendalter steigt dann der Anteil der Versorgungsausgaben für Mädchen mit psychischen Erkrankungen. „Durch Geschlechtsunterschiede bei den Prävalenzen psychischer Erkrankungen allein ließen sich diese Unterschiede bei den Versorgungsausgaben nicht erklären“, erläuterte Lehndorfer.

In der Diskussion wurde betont, wie wichtig es sei, Eltern, Erzieher und Lehrer besser für die unterschiedlichen Ausprägungen von psychischen Problemen bei Jungen und Mädchen zu sensibilisieren. Außerdem müssten Kinder und Jugendliche so früh wie möglich selbst in die Einschätzung ihrer psychischen Auffälligkeiten und Belastungen einbezogen werden. Eltern und andere Bezugspersonen reichten als Informationsquelle nicht aus. Nur so könne sichergestellt werden, dass Jungen und auch Mädchen frühzeitig die Hilfe und Unterstützung bekämen, die sie benötigten. So könne möglicherweise auch vermieden werden, dass sich psychische Auffälligkeiten von der Kindheit ins Jugendalter hinein chronifizieren, ergänzte KiGGS-Experte Franz Baumgarten.

Nutzerorientierung und adressatenspezifische Ansätze

Drei Beispiele guter Praxis aus den Bereichen Prävention, psychotherapeutische Behandlung und Jugendhilfe zeigten Perspektiven für die Zukunft. Prof. Dr. Raimund Geene von der Alice Salomon Hochschule Berlin erläuterte das Modell der familiären Gesundheitsförderung. Darin sind Genderaspekte in der Prävention nur einer von vielen Faktoren, die zu berücksichtigen seien. Gesundheitsförderung setze in Lebenswelten an und müsse lebensphasenspezifische Bewältigungsaufgaben rund um Schwangerschaft, Geburt, Kindheit, Adoleszenz und Erwachsenenalter sowie spezifische Lebenslagen wie beispielsweise Armut, Isolation und Alleinerziehen berücksichtigen. Der Anspruch sei, mit einer Vielfalt an Methoden adressatenbezogene Angebote zu machen, die von der Zielgruppe auch genutzt würden. Adressatengerecht bedeute dabei auch, Angebote so zu gestalten, dass sie nicht stigmatisierend seien, sondern ressourcenorientiert. „Viele Alleinerziehende wollen nicht als Risikogruppe angesprochen werden“, mahnte Geene. Angebote würden von sozial benachteiligten Menschen oft nicht angenommen, weil diese dann als „arm“ etikettiert würden. Geene stellte NeFF, das Netzwerk frühe Förderung in Dormagen, als Beispiel für ein Good-Practice-Modell der nutzer- und lebenslagenorientierten Prävention vor. Familiäre Gesundheitsförderung werde dort als komplexe Gestaltungsaufgabe verstanden, die in einen integrierten kommunalen und überregionalen Handlungsrahmen eingebettet sei.

In der Diskussion wurde deutlich, dass der Umsetzung oft die voneinander abgegrenzten Hilfesysteme im Weg stehen. Diese Barrieren könnten überwunden werden, wenn gemeinsames Handeln in den Vordergrund gestellt und Menschen wieder in ihre sozialen Zusammenhänge zurückgeholt würden. Das setze voraus, Gesundheit als gesellschaftliches Gut zu sehen: „Probleme tauchen im Körper auf, aber müssen als Gesellschaft gelöst werden“, so Geene.

Besonderheiten der psychoanalytischen Behandlung von Jungen und Mädchen

Dr. Fabian Escher von der Universität Mainz stellte Aspekte des gendersensiblen Vorgehens in der analytischen Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen vor. Er wies darauf hin, dass in der Kindheit Jungen viel häufiger in psychotherapeutischen Praxen zu finden seien, in der Adoleszenz dagegen Mädchen überwiegen. Damit bestätigte er den aus der Epidemiologie bekannten Geschlechtsunterschied. Besondere Herausforderungen in einer geschlechtersensiblen psychotherapeutischen Behandlung bestehen aus seiner Sicht in dem unterschiedlichen Ausdruck weitgehend ähnlicher intrapsychischer Konflikte bei Jungen und Mädchen. „Das ‚klassische‘ kinderpsychotherapeutische Setting mit „Mädchenspielen“, Puppenhäusern und der großen Bedeutung der verbalen Kommunikation kommt Mädchen dabei mehr entgegen“, stellte Escher fest. Zum Expansionsdrang vieler Jungen passe dieses Setting dagegen weniger. Gute Praxis einer geschlechtersensiblen Psychotherapie mit Jungen bedeute deshalb, Spiele eher technisch und mechanisch orientiert zu gestalten, Affektwahrnehmung und -kommunikation zu fördern und Raum für aggressives und expansives Verhalten zu geben. In der Behandlung von Mädchen ergeben sich unter anderem Konflikte in der Triade mit den Eltern und in Schwerpunkten in der Beziehung zum eigenen Körper, die sich etwa in Körperinszenierungen durch Essstörungen zeigen könnten. Die Therapie von Mädchen sollte daher Entlastung von Scham und Schuld ermöglichen und die Integration von aggressiven Aspekten im Selbsterleben fördern. Bei Familien mit Migrationsgeschichte sollten Psychotherapeuten vor allem auch veränderte Autonomiebestrebungen im Blick haben.

Therapeutische Gruppen für Mädchen in der stationären Jugendhilfe

Dr. Norbert Beck, Leiter des Therapeutischen Heimes Sankt Josef in Würzburg, erläuterte die Besonderheiten des therapeutischen Arbeitens mit Mädchen und Frauen in der stationären Jugendhilfe. Hier seien pädagogische Betreuung und psychotherapeutische Behandlung eng aufeinander abgestimmt für eine Zielgruppe, bei der Regelangebote der Versorgung nicht erfolgreich gewesen seien. Voraussetzungen des Gelingens seien eine geschlechtsspezifische Angebotsstruktur und das Selbstverständnis als „therapeutische Versorgungseinheit“ mit einer guten Abstimmung zwischen heilpädagogischem und psychotherapeutischem Personal. Die Teams verfügten über spezifische Expertise, z. B. durch Fortbildungsangebote zur Traumpädagogik und zur dialektisch-behavioralen Therapie. Es bestehe eine enge Zusammenarbeit mit externen psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgern sowie mit der trägereigenen Förderschule und weiterführenden Schulen. Die Multiprofessionalität intern und extern sowie die verlässliche Vernetzung münde bei vielen Patientinnen in eine erfolgreiche Teilhabe, was die Regelversorgung in diesen Fällen nicht geschafft hatte. Finanziert werde die Einrichtung über die Jugendhilfe.

In der Diskussion wurde die enge Einbindung von Psychotherapeuten in das pädagogische Team durchaus auch kritisch gesehen, weil für die psychotherapeutische Behandlung der neutrale Ort wichtig sei. Mit Psychotherapeuten im Betreuungsteam könnten auch Rollenkonflikte entstehen. Beck wies dazu darauf hin, dass diese Kooperation nicht als Standardprozedere für die Behandlung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher empfohlen werde, sondern als Maßnahme für Jugendliche, bei denen die Regelversorgung bereits zu oft gescheitert sei. „Ich hoffe, dass Psychotherapeuten durch die Reform ihrer Ausbildung künftig für die Arbeit in der Jugendhilfe noch besser qualifiziert werden können und auch eine Weiterbildung in der Jugendhilfe möglich wird“, appellierte Beck.

Dank an Peter Lehndorfer

Das Symposium war die letzte Amtshandlung von Peter Lehndorfer als Vizepräsident der Bundespsychotherapeutenkammer. Seit Gründung der BPtK 2003 hat der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut die Arbeit des BPtK-Vorstandes entscheidend mitgeprägt. „Er hat sich dabei unermüdlich für eine bessere Versorgung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher eingesetzt“, so BPtK-Präsident Dr. Munz. „Diese Veranstaltung ist daher auch Ausdruck des besonderen Dankes und zugleich ein unmissverständliches Signal der Bundespsychotherapeutenkammer, auf Kinder und Jugendliche auch künftig ein besonderes Augenmerk zu haben.“ Bei der Vorstandswahl im März 2019 hat Lehndorfer aus Altersgründen nicht mehr kandidiert.

Peter Lehndorfer

Es bleibt noch viel zu tun

Munz forderte abschließend, gemeinsam Perspektiven für eine Verbesserung der gesundheitlichen Chancen von Mädchen und Jungen zu entwickeln. Er betonte den Bedarf für eine Intensivierung der Versorgungsforschung, in der z. B. epidemiologische und Versorgungsdaten gemeinsam untersucht werden, um Unter- und Fehlversorgung zu erkennen. Bedarf gebe es auch bei spezifischer Prävention und Aufklärung mit Fokus auf psychische Auffälligkeiten von jüngeren Mädchen oder männlichen Jugendlichen, z. B. durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Es sei noch viel zu tun, Prävention und Gesundheitsförderung gendersensibel auszurichten. Dabei müsse immer sowohl das Geschlecht als auch das Alter berücksichtigt werden. Gewonnene Erkenntnisse sollten rasch auch in die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Erziehern, Lehrern, Ärzten und Psychotherapeuten integriert werden.

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