„Alter ist kein Kriterium für Rationierung!“

Erfahrungsbericht 10: Prof. Eva-Marie Kessler über die Versorgung älterer Menschen

(BPtK)

Darüber kann sie sich richtig aufregen. Darüber, wie jetzt in der Öffentlichkeit über ältere Menschen geredet wird. Viele von ihnen sind durch das Virus besonders gefährdet, weil ihr Immunsystem nicht mehr so stark ist oder weil sie bereits chronisch und mehrfach erkrankt sind. Aber als ob das nicht schon reicht, wird in der Öffentlichkeit jetzt diskutiert, ob das Alter ein Kriterium ist, nach dem an Coronakranke noch medizinische Hilfe verteilt werden soll. „Alter ist kein Kriterium für Rationierung!“, stellt Professorin Eva-Marie Kessler fest. In Großbritannien werden an knappe Beatmungsgeräte allerdings schon vor allem Jüngere angeschlossen. „Manche alte Menschen fühlen sich dadurch an gar nicht so gute alte Zeiten erinnert, als von ‚unwertem Leben‘ gesprochen wurde.“

„Wir müssen als Psychotherapeut*innen zeigen, dass wir für besonders gefährdete Personen da sind“, fordert die Professorin für Gerontopsychologie an der Medical School Berlin. „Viel drängender als bei Jüngeren stellt sich bei älteren Menschen zudem die Frage, wie wir überhaupt noch Wege finden, dass sie unsere Hilfe erreicht.“ Immer wieder hört Eva-Marie Kessler jetzt von Patient*innen: „Gut, dass ich noch den Termin mit Ihnen habe. Der Pflegedienst kommt ja schon nicht mehr. Ich traue mich aber nicht raus, weil ich Angst vor dem Virus habe. Mein Hausarzt hat auch seine Hausbesuche eingestellt.“

Ältere Menschen sind aufgrund der Coronakrise noch stärker isoliert als in normalen Zeiten. Manche kommen damit durchaus zurecht. Sie sind seit Jahren sehr an die Häuslichkeit gewohnt und können sich gut zurückziehen. Für sie sind die ersten Wochen der Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen gar nicht so anders gewesen. Die Tochter hat den Einkauf übernommen und damit war die Welt soweit in Ordnung. Andere haben bereits sehr viel erlebt und sind dadurch gestärkt und stabil. „Das wird auch vorübergehen“, sagen sie zuversichtlich und nutzen all ihre Kräfte, damit dies auch gelingt. Bei wieder anderen wecken die Warteschlangen allerdings ganz andere Erinnerungen. Erinnerungen an Krieg und Bomben. Diese traumatischen Erlebnisse prägen jetzt wieder ihr Erleben der allgegenwärtigen Ansteckungsgefahr. Bei vielen, die 75 Jahre und älter sind, wird aus der Angst sich anzustecken nicht selten Todesangst und aus Rückzug totale Isolation. Am Ende quälen sie sich mit der Erwartung, wegen Corona allein zu sterben.

„Ältere Menschen sind schon normalerweise psychotherapeutisch ausgesprochen schlecht versorgt“, kritisiert Psychotherapeutin Eva-Marie Kessler. Bei den Über-75-Jährigen mit einer depressiven Erkrankung erhält nicht einmal ein Prozent eine ambulante Psychotherapie.“ Die Gerontopsychologin setzt sich deshalb schon seit Längerem für mehr Hausbesuche durch Psychotherapeut*innen ein. „Wir müssen flexibler werden“, mahnt sie ihre eigene Profession. „Aber wie sollen wir jetzt Hausbesuche machen, wo es an Schutzkleidung mangelt?“ Und damit steht sie wie viele ihrer Kolleg*innen vor der grundsätzlichen Frage: „Wie ist Hilfe für ältere Menschen überhaupt noch möglich?“

Dass inzwischen eine telefonische Beratung und Behandlung möglich sind, war ein ganz entscheidender Schritt in die richtige Richtung. Kontakt und Gespräch sind so wieder möglich. Doch bisher ist die Telefonbehandlung auf Patient*innen eingeschränkt, die bereits bei einer Psychotherapeut*in in Behandlung sind. Alle anderen sind ausgegrenzt. Wer neu erkrankt, bleibt unerreichbar und unbehandelbar. Denn mit Videotelefonaten, die bei allen Patient*innen eingesetzt werden können, kommen viele ältere Menschen nicht zurecht. Sicher, es gibt die jungen Alten, die mit Smartphone und Laptop vertraut sind und mit denen Psychotherapie auch per Bildschirm möglich ist. Aber es gibt auch die alten Alten, die manchmal motorisch kaum in der Lage sind, den Telefonhörer zu halten, die kognitive Einschränkungen haben, die blind sind. „Für die Mehrheit der Über-70-Jährigen ist nach meinen Erfahrungen die Behandlung per Videotelefonat deshalb nicht das richtige Mittel, weil keine entsprechende Technik – WLAN, Webcam – zur Verfügung steht.“, stellt Eva-Marie Kessler fest. „Ohne Telefon ist die Tür zur psychotherapeutischen Versorgung verschlossen.“

Selbst da, wo die Behandlung per Telefon möglich ist, reicht die Zeit, die dafür zur Verfügung steht, nicht aus. Mehr als 20 Telefonate à 10 Minuten im Vierteljahr sind nicht drin. „Das reicht für die Behandlung einer schwer depressiven Patient*in gerade in der jetzigen Situation hinten und vorne nicht aus“, kritisiert Eva-Marie Kessler. Angst und depressive Niedergeschlagenheit sind aber die häufigsten Reaktionen von älteren Menschen auf die Ansteckungsgefahr und häusliche Isolation.

Die Coronakrise erhöht auch den Aufwand an Gesprächen mit anderen, die sich um ältere Menschen kümmern. Mehr als normal sind koordinative Leistungen gefordert: Gespräche mit den Angehörigen, dem Pflegedienst, den Hausärzt*innen. „In der Not müssen wir vor allem individuelle Lösungen finden, wie wir älteren Menschen weiter helfen können“, erklärt die Psychotherapeutin. „Und dafür brauchen wir – noch mehr als sonst – Zeit!“

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