Zum 6. und vorletzten Seminar der Ende September 2021 gestarteten Online-Reihe, gestaltet von den Mitgliedern des Arbeitskreises „Psychotherapie für Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung“, hatten sich über 230 Teilnehmer*innen angemeldet, also mehr als zwei bis drei Mal so viele wie zu den Themen der vorhergehenden Seminare. Davon waren mehr als die Hälfte erstmals dabei!
In seiner Einführung informierte Vorstandsmitglied Dr. Roland Straub zunächst wieder zu den Anliegen, Zielen und Aktivitäten des Arbeitskreises. Er gestand ein, dass er sich angesichts dieses unerwartet hohen Interesses am Thema vorab durch Recherchen im Internet schon mal schlau gemacht habe, um für sich erste Erklärungen in der Vielfalt der Fachinformationen, Videos von Fachleuten und Berichten von Betroffenen zu finden. Diese Recherche habe ihm dann rasch deutlich gemacht, dass das Bild von Autismus-Spektrum-Störungen stark geprägt ist von Filmen wie „Rain Man“ oder den besonderen Qualitäten und den Empfindlichkeiten von autistischen Menschen wie z. B. Greta Thunberg.
Markant jedoch sei gewesen, dass nur zwei Beiträge über autistische Menschen mit geistiger Behinderung zu finden gewesen seien, die sich mit deren besonderen Begabungen, Überforderungen oder auch den Problemen beschäftigten, wenn die Betroffenen sich sprachlich und im Verhalten bei sensorischen Überforderungen im Alltag nicht adäquat verständlich machen könnten. Dies habe ihm rasch klar gemacht, dass psychotherapeutische Arbeit mit diesen Menschen besonderes Wissen, hohe Aufmerksamkeit und Sensibilität erfordere und ihm die hohe Beteiligung der Kolleg*innen an diesem Thema verständlicher gemacht.
Anschließend stellte er kurz den Referenten des Abends Hermann Kolbe vor, wies auf dessen jahrelange therapeutische Erfahrung in einem großen Behindertenheim hin, in dem er unter anderem langjährig die Leitung der heilpädagogischen Förderung von Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen und Verhaltensauffälligkeiten hatte, darunter viele Autisten. Damit gehöre er zu den wenigen Experten mit reichlicher Erfahrung in der psychotherapeutischen Arbeit mit autistischen Menschen mit psychischen Störungen.
In seinem Vortrag ging Hermann Kolbe zunächst anhand von Fallbeispielen auf Prinzipien des Verständnisses der anderen Sicht der Welt ein, die oft als „verquer“ beschriebene Logik des Denkens, die Eingeschränktheit, Gefühle zu kommunizieren und die scheinbar extreme Selbstbezogenheit. Hinter alldem zeige sich allerdings oft Angst als Grundstörung.
Ausführlich erläuterte er diagnostische Kriterien und Hilfsmittel im Spektrum von Einschränkungen in Intelligenz (hier besonders die Schwierigkeit zwischen Autismus und Schwerstbehinderung zu unterscheiden), in sprachlichen Fähigkeiten, Sinnesempfindlichkeiten, Beweglichkeit und sozialem Umgang. Hinzu käme eine hohe Komorbidität, auf die zu achten sei, um zu einem besseren Verständnis in der therapeutischen Arbeit zu kommen. Er wies dann auf die Wichtigkeit und die besonderen Herausforderungen und Belastungen auf Seiten Familienangehöriger und Betreuer hin, die es in der Arbeit immer einzubeziehen gilt. Neben einem Überblick über bewährte und hilfreiche Untersuchungsverfahren ging er auf einige hilfreiche psychoedukative und verhaltenstherapeutische Strategien ein.
In der abschließenden Diskussion gab es viel positive Rückmeldung mit Dank für den informativen Vortrag und die wertvollen fachlichen Hinweise, sowie die gelungene Verbindung von theoretischen und praktischen Informationen. Weiter wurde anhand der zahlreichen Rückmeldungen im Chat und im direkten Austausch deutlich, dass nicht wenige Teilnehmer*innen in diesem Bereich Expertise hatten, es gab weitere Hinweise, Bewertungen und Austausch zu möglichen diagnostischen Verfahren.
Im weiteren Austausch ging es um die therapeutischen Möglichkeiten von Psychotherapeut*innen in den ambulanten Behandlungszenten, die für diese Zielgruppe aufgebaut wurden, wie etwa Autismuszentren, Sozialpädiatrische Zentren und Medizinische Zentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung (MZEB). Diese spezialisierten Behandlungszentren sind darauf ausgerichtet, ein Behandlungs- und Unterstützungsangebot für Menschen mit geistiger Behinderung und/oder schwerer Mehrfachbehinderung und komplexen Erkrankungen durch multiprofessionelle Teams anzubieten. Thema dabei waren die dort gegebenen eingeschränkten Rahmenbedingungen, psychotherapeutisch zu arbeiten, sei es die Einschränkung des Behandlungskatalogs auf Diagnostik oder dass für eigenständig erstellte Berichte der wenigen dort tätigen approbierten Psychotherapeut*innen weiter fachärztliche Unterschriften gefordert seien. Auch wurde bedauert, dass in den entstehenden oder schon bestehenden MZEBs (in den Bundesländern immerhin bereits ca. 60) Psychotherapie nicht im Leistungskatalog geführt werde. Zu diesen angesprochenen Themen soll ein weiterer Austausch im Arbeitskreis und mit Teilnehmern der Fortbildung initiiert werden.