Psychotherapeutische Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung

LPK-Präsident Dr. Dietrich Munz
(LPK BW)

Großer Andrang herrschte bei der am 20. April 2016 in den Räumen der Bezirksärztekammer in Stuttgart gemeinsam von Landespsychotherapeutenkammer (LPK) und Landesärztekammer (LÄK) durchgeführten Tagung zur „Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung und zusätzlichen psychischen Störungen – Aktuelle Möglichkeiten und Konzepte“.

Fachleute und auch Betroffene sind sich einig: Die psychotherapeutische Versorgung von Menschen mit Intelligenzminderung muss als unbefriedigend bezeichnet werden. Demgegenüber steht ein deutlich erhöhtes Risiko für psychische oder psychosomatische Störungen. Die besonderen Erwartungen und Anforderungen an eine Behandlung trauen sich viele Psychotherapeuten nicht zu. Die bei der Tagung vortragenden bzw. berichtenden Experten sollten die Teilnehmer zu einer Annäherung an das Thema ermutigen.

Diskutant Klaus Diegel, Mitglied im Arbeitskreis

Wie Kammerpräsident Dr. Dietrich Munz in seinem Grußwort ausführte, haben es Menschen mit Intelligenzminderung besonders schwer, psychotherapeutische Hilfe zu erhalten. Die LPK beschäftige sich seit einigen Jahren damit, wie die psychotherapeutische Versorgung hier verbessert werden kann. 2011 habe die Vertreterversammlung den Vorstand beauftragt „geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um dem defizitären therapeutischen Angebot für Menschen mit Intelligenzminderung entgegenzuwirken“. Hierzu sei ein Arbeitskreis (AK) aus niedergelassenen und angestellten Experten gegründet worden mit dem Ziel, mehr Psychotherapeuten zur Psychotherapie für Menschen mit Intelligenzminderung zu interessieren und über Fortbildungsveranstaltungen zu qualifizieren sowie einen aktuellen und umfassenden Überblick zur Versorgungssituation herzustellen.

Diskutantin Dr. Irmgard Roth-Kirchberger, LÄK-Vorstandmitglied

Wie Dr. Munz betonte, habe der AK inzwischen schon sehr viel erreicht, es seien in den vergangenen drei Jahren mehrere und wiederholte regionale Fortbildungen in Baden-Württemberg durchgeführt worden. Darüber hinaus böten AK-Mitglieder in Zusammenarbeit mit vier Ausbildungsinstituten Seminare zur Psychotherapie für Menschen mit Intelligenzminderung an. Und nicht zuletzt habe der AK eine umfassende Broschüre zur „Psychotherapie für Menschen mit geistiger Behinderung – Fragen & Antworten“ für interessierte Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten erarbeitet, die auf der LPK-Homepage zur Verfügung stehe. Dr. Munz dankte den Mitgliedern des AK Ullrich Böttinger, Klaus Diegel, Jan Glasenapp, Damaris Halbeis, Hermann Kolbe, Sabine Luttinger, Kerstin Lutz, Stefan Meir, Elisabeth Noeske, Silke Sacksofsky und Roland Straub (Vorsitz) für die überaus erfolgreich geleistete Arbeit und wünschte auch der heutigen Tagung, die vom AK konzipiert und organisiert wurde, eine entsprechende Resonanz. In seinem einführenden Statement wies LÄK-Präsident Dr. Ulrich Clever auf die schon traditionell gute Zusammenarbeit der beiden Kammern in Baden-Württemberg hin. Diese und auch andere gemeinsame Veranstaltungen, z. B. zur Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen, seien beispielgebend dafür.

Dipl.-Psych. Stefan Meir

Am Vormittag wurde ein Überblick zu den besonderen Bedarfen und Bedingungen, dem aktuellen Forschungsstand und zur barrierefreien Psychotherapie gegeben. Da der Hauptreferent, Prof. Dr. Seidel, sehr kurzfristig absagen musste, hatte Stefan Meir (St. Lukas- Klinik, Meckenbeuren-Liebenau) diesen Vortrag dankenswerterweise und trotz nächtlicher Vorbereitungen ausgesprochen lebendig und praxisnah übernommen. Meir betonte, dass noch immer der größte Teil der Menschen mit Intelligenzminderung in stationären Einrichtungen behandelt würde und ambulante Psychotherapie eher die Ausnahme sei. Die psychotherapeutische Arbeit mit diesen Patienten erfordere eine spezifische Diagnostik, den Einbezug von Angehörigen bzw. des Umfelds und sei damit komplexer und zeitaufwendiger als eine „gewöhnliche“ Psychotherapie.

Dr. Dipl.-Psych. Barbara Vogel

Dr. Barbara Vogel (Institut für Psychologie, Abt. Rehabilitationspsychologie und Psychotherapie der Universität Freiburg) gab einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur Psychotherapie mit intelligenzgeminderten Menschen sowie einen Einblick in die praktische psychotherapeutische Arbeit. Entgegen landläufiger Meinungen zeigten mehrere Studien, dass Psychotherapie bei Menschen mit Intelligenzminderung wirkt bzw. positive Effekte hat. Auch Dr. Vogel wies auf den erhöhten Aufwand hin, aber auch darauf, wie viel Freude und Zufriedenheit sie in der Arbeit mit intelligenzgeminderten Patienten erlebt und wie sehr es auch Therapeuten gut tun kann, mit diesen zu arbeiten. Sie konnte anhand spezieller, auf intelligenzgeminderte Patienten zugeschnittener therapeutischer Ansätze zeigen, wie diese Patienten psychotherapeutisch erreicht werden und wie positive Entwicklungen unterstützt werden können.

Dr. Dipl.-Psych. Jan Glasenapp

Im dritten Referat des Vormittags schloss sich Dr. Jan Glasenapp (niedergelassener Psychotherapeut, Schwäbisch Gmünd) mit seinem sehr kreativ und medial ausgeführten Beitrag über Barrierefreiheit in der Psychotherapie an. Neben den Barrieren für die Patienten ging es ihm dabei auch um die inneren Barrieren von Psychotherapeuten, die meinen, nicht mit intelligenzgeminderten Patienten arbeiten zu können (oder zu wollen). Ähnlich wie seine Vorredner wies Glasenapp auf die Chancen und Ressourcen hin, die sich einem in der Arbeit mit diesen Patienten eröffnen können und werden.

Die Referate wurden ergänzt durch eine Podiumsdiskussion mit „Praktikern“ in der aus unterschiedlicher beruflicher Perspektive die Erfahrungen in der psychotherapeutischen Arbeit beleuchtet wurden. In der Runde, die von Jan Glasenapp moderiert wurde, berichteten der Stuttgarter Allgemeinmediziner Dr. Rafael Reinhardt, der Tuttlinger Psychiater Dr. Christoph Feiner, die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Silke Sacksofsky sowie Rosemarie Henes, Angehörige und Mitglied des BAFF, beide aus Reutlingen, über ihre Arbeit. Die Fragen waren fokussiert darauf, wie der Zugang zur Arbeit gewesen sei, was an der Arbeit gefalle, mit welchen organisatorischen Schwierigkeiten man zu rechnen habe und an welche Grenzen man stoße. Auch aus dieser Runde war zu hören, wie sehr die Arbeit mit intelligenzgeminderten Patienten neben den Schwierigkeiten (Einbezug von Angehörigen, dem Umfeld, unklare Finanzierung etc.) auch Freude bereiten und zur Arbeitszufriedenheit beitragen kann.

Blick in Plenum. Vorne von links LPK-Vorstandsmitglied und Behindertenbeauftragter Dr. Roland Straub, AK-Mitglied Stefan Meir, Dr. Christoph Feiner sowie rechts vorne LÄK-Präsident Dr. Ulrich Clever

Am Nachmittag fanden Workshops zu wichtigen Themen wie „Beziehungsgestaltung und Gesprächsführung“, „begleitende Pharmakotherapie und Psychotherapie“, „Entwicklungsdiagnostik“ und „Hinweise zum Antragsverfahren“ statt. Die positiven Rückmeldungen dazu sowie die überdurchschnittlich guten Bewertungen der Tagung rundeten den Erfolg der Veranstaltung ab und unterstrichen das positive Interesse der Teilnehmer an dieser Arbeit.

Podiumsdiskussion, v.l.n.r.: Jan Glasenapp (Moderation), Rosemarie Henes, Silke Sacksofsky, Dr. Christoph Feiner, Dr. Rafael Reinhardt
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